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Die Liebe zum heiligen Gras

Goran Ivanisevic hat das Tennisturnier von Wimbledon gewonnen, weil er eine besondere Leidenschaft dafür empfindet. Das eint ihn mit anderen Champions wie Becker oder Sampras

aus Wimbledon MATTI LIESKE

Warum ist es eigentlich so leicht, Wimbledon zu gewinnen? So leicht, dass es ein pummeliger 17-Jähriger tun kann, der irgendwo aus dem Nichts kommt; und so leicht, dass es ein alter Knochen schafft, der monatelang kaum ein Match gewonnen hat, in der Weltrangliste so weit durchgesackt ist, dass man ihn ohne Wildcard auf keinen Platz mehr lässt, und dessen Aufschlagarm samt Schulter längst als besonders abschreckendes Beispiel in ein sportmedizinisches Gruselkabinett gehört? Antwort: Leicht ist es nur für jene, die über ein paar ganz spezielle Voraussetzungen verfügen.

Über ein naturgegebenes Talent für Rasentennis und eine günstige Auslosung, wie beim 17-Jährigen. Oder einen phänomenalen Aufschlag, einen passablen Return, langjährige Erfahrung, viele Schmerztabletten und grenzenloses Selbstvertrauen – wie in diesem Jahr bei Goran Ivanisevic. Und das Wichtigste von allem: Man muss Wimbledon lieben – das Turnier, die Tradition, jeden einzelnen Grashalm, das Publikum und sogar das Herzogspaar von Kent. Die innige Beziehung zu Wimbledon ist es, welche die großen Sieger der beiden letzten Jahrzehnte, Pete Sampras, Boris Becker und jetzt Ivanisevic, von denen unterscheidet, die immer nur am Titel schnuppern, wie Patrick Rafter und Tim Henman, oder höchstens einmal flüchtig den Siegespokal schwenken dürfen, wie Andre Agassi, Richard Krajicek oder Michael Stich. Für die ist Wimbledon zwar ein wichtiges Turnier, aber eben doch nur ein Turnier. Für die anderen ist es eine Leidenschaft, die seltsame Dinge bewirkt, gleichsam das Tor zu einer anderen Welt, der Heilige Gral, das Lourdes für Filzballprügler. Blinde können plötzlich wieder sehen, Lahme (Boris Becker 1999) bekommen Flügel verliehen, Versehrte (Ivanisevic) können wieder aufschlagen.

Goran Ivanisevic ist das beste Beispiel für die geheimnisvolle Heilkraft von Wimbledon. Kurz vorher hatte der 29-Jährige im Queen’s Club in der ersten Runde gegen den Italiener Cristiano Caratti verloren und eine so jämmerliche Figur gemacht, dass er allgemeines Mitleid erregte. Doch kaum betrat er die Anlage an der Church Road und setzte seinen Fuß auf den geheiligten Rasen, ging eine Wandlung in ihm vor. „Ich kann es nicht erklären, aber etwas hat sich verändert“, sagte er nach dem ersten Match gegen den Schweden Jonsson. Wie von Zauberhand kam plötzlich sein Aufschlag in Lichtgeschwindigkeit, sein Spiel fügte sich zusammen wie eine Schatzkarte, deren Teile zuvor in alle Winde verstreut waren, und spätestens nach dem Zweitrundensieg gegen den Spanier Carlos Moya sah man dem Kroaten an, dass er fest an das glaubte, was sonst noch niemand ahnte: dass dieses Wimbledon allein ihm gehören würde.

Eine Methode, die auch bei Becker und Sampras lange funktionierte: nicht nur wissen, wie man auf Rasen spielt, sondern auch überzeugt sein, dass man darauf unschlagbar ist. Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Umständen der Sieger in dem gloriosen Finale am Montag vor einer entfesselten Zuschauerkulisse nur Goran Ivanisevic heißen konnte. Sein Endspielgegner Patrick Rafter ist viel zu bodenständig und realistisch, um eine solch mystische Beziehung zu einem Tennisturnier aufzubauen. Während Ivanisevic ständig von Gott und Schicksal faselte, wo es doch wohl eher ein altkeltischer und daher extrem engländerfeindlicher Wald-und-Wiesen-Dämon ist, der in Wimbledon über Sieg und Niederlage entscheidet, verließ sich der Australier auf sein Tennis. Das Spiel auf Rasen liegt dem Serve-and-Volley-Spezialisten, mehr aber auch nicht. Die schönsten Erinnerungen an das Turnier verbindet Rafter mit der Zeit, als er noch ein unbekannter Außenseiter war und daher ungehindert in den Pub gehen konnte. Die Finalniederlage schmerzte ihn zwar, doch vermochte er kurz danach schon wieder zu lächeln und mit australischer Entspanntheit fehlerfrei seine Rolle als bester Verlierer des Weltsports zu verkörpern. „Ein paar Bier mit Freunden“, hieß seine simple Anti-Frust-Therapie, angesichts der Begeisterung der Zuschauer sei das Finale trotz des unschönen Ausgangs allemal „ein ungeheurer Spaß“ gewesen: „Dafür spielen wir Tennis.“ Und einer verliere halt immer, „diesmal war es blöderweise wieder ich“.

Solch sympathische Nonchalance verzeiht Wimbledon nicht. Während Ivanisevic, dem eine Schulteroperation bevorsteht, sich bereits unbändig darauf freut, im nächsten Jahr das Eröffnungsspiel in Wimbledon zu bestreiten (sind Titelverteidiger eigentlich automatisch qualifiziert?), wird der zweifache Finalverlierer Rafter wohl fehlen. Ende des Jahres legt der 28-Jährige eine Pause ein, die er manchmal als unbegrenzt bezeichnet und manchmal auf sechs Monate beziffert. Seine Schulter ist trotz bereits absolvierter Operation kaum in einem besseren Zustand als die von Ivanisevic, in seinem Haus auf Bermuda will sich Rafter in Ruhe überlegen, ob ihn das Tennis noch reizt und er überhaupt zurückkehren möchte. Seinen bermudesischen Tagesablauf hat er ziemlich klar vor Augen: „Morgens aufwachen, am Strand schwimmen gehen, ein bisschen Yoga, etwas Golf spielen.“ Seine Kumpels auf Bermuda seien alle mindestens 20 Jahre älter als er, weshalb er beim Squash oder Fußball immer gewinne.

Das hört sich besser an als Wimbledon, wo er in Anspielung auf die Niederlage im letzten Jahr gegen Sampras, der damals den Rekord an Grand-Slam-Siegen brach, und jetzt gegen den ersten Wildcard-Inhaber, der ein großes Turnier gewann, sagte: „Ich habe es satt, verdammte Geschichte zu machen.“ Die Frage, ob er denn überhaupt noch einmal nach Wimbledon zurückkehren werde, beantwortet Pat Rafter mit einem lässigen Achselzucken. Liebe ist das nicht.

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