„Kinder sind hochtourige Lerner“

Kleine Kinder lernen zu wenig, Erzieher gehen zu routiniert mit Wissen um, findet die Jugendforscherin Donata Elschenbroich. Sie hat ein „Weltwissen der Siebenjährigen“ zusammengestellt. Und plädiert für Leistung – beim Erweitern des Horizonts

Interview ULRICH NOLLER

taz: Sie haben einen Wissenskanon für Kleinkinder aufgestellt. Beginnen Sie nicht ein bisschen früh mit dem Wissenserwerb?

Donata Elschenbroich: Wissen ist etwas, was Kinder von Anfang an suchen. Gerade in der späteren Vorschulzeit sind sie fasziniert von allem Wissenswerten. Sie sind richtig stolz, wenn sie auf einem kleinen Gebiet Spezialist werden.

Aber warum sollten Kinder gleich über ein „Weltwissen“, wie Sie es nennen, verfügen?

In den letzten drei Jahrzehnten hat die Pädagogik sehr darauf geachtet, wie Kinder sich als soziale Wesen entwickeln. Mit guten Gründen. Nur ist inzwischen viel passiert: Kinder können gut verhandeln, sie beherrschen sehr früh, Telefone zu bedienen. Bei aller sozialen und kommunikativen Kompetenz scheint aber aus dem Blick geraten zu sein, dass Kinder auf ihren Erkundungsgängen in die Welt auch Interpretationshilfen benötigen.

Kinder wissen zu wenig?

Gemessen daran, wie routiniert Kindergärten oder Familien heute mit Wissen umgehen, könnte man die Erwartungen ruhig steigern. Damit meine ich nicht das, was man den Kindern abfordert. Mir geht es um das, was man ihnen anbietet, was ihren Horizont erweitert.

Sie geben den Erziehungsberechtigten Nachhilfe.

Kein sehr freundliches Wort. Aber Hilfe brauchen sie auf jeden Fall. Ich habe von Berufs wegen immer viel über Kinder gelesen – trotzdem war ich bei meinen eigenen auf Hilfe angewiesen.

Manchen Eltern werfen Sie sogar Unterlassung und Vernachlässigung vor.

Alle Eltern kennen Schuldgefühle. Schon nach den ersten Jahren fragen sie sich, warum sie interessante Dinge nicht gemeinsam mit den Kindern gemacht haben. Oder werfen sich vor, zu sehr in ihrer täglichen Routine zu verharren. Ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, mit meinem Sohn auf einem Friedhof gewesen zu sein – obwohl es in der Nähe einen sehr schönen gab. Wir hätten uns dabei sicher gut unterhalten können.

Warum bringen Eltern ihren Kindern zu wenig bei?

Sie begeben sich erst gar nicht in bestimmte Situationen, die interessant wären. Man hat so ein Bild von Kindern, dass sie sich immer amüsieren müssen, dass alles Spaß machen muss. Da waren frühere Generationen weniger ängstlich. Die haben Kindern mehr zugemutet. Gut, wir muten ihnen das Fernsehprogramm zu – das ja durchaus Schattenseiten des Lebens bietet.

Werden Kinder unterschätzt?

Kinder sind hochtourige Lerner. Dies gilt, wie die Säuglingsforschung zeigt, schon für Babys. Sie sind zu viel mehr in der Lage als zu bloßen Reflexen. Man weiß mittlerweile, dass sie von Beginn an ihre Umwelt dekodieren. Das ist, finde ich, eine sehr spannende Botschaft, weil sie zeigt, dass der Mensch von Geburt an gerne lernt. Jede Sekunde fragt das Gehirn: Was gibt es Neues? Die Welt ist für diese hochkonzentrierten kleinen Menschen ein Labor, eine Werkstatt, ein Atelier.

Was gehört für Sie zum Weltwissen?

Dass Spagetti nicht mehr gut schmecken, wenn man sie eine Stunde lang kocht. Dass es Schuhe für den rechten und für den linken Fuß gibt. Dass die Mutter reizbar ist, wenn sie eine Fastenkur macht. Solcherlei Orientierungswissen auf ganz verschiedenen Ebenen, sozial und zwischenmenschlich. Aber auch das Sachwissen und das Immer-mehr-wissen-Wollen. Jedes Kind, das gern übt, weiß instinktiv, dass es sich verbessern kann.

Und Sie wissen, dass ein konkreter Kanon stets für Streit sorgt.

Ich wollte keine Liste aufstellen, die man in Tests abhaken kann. Können, Wissen, Erfahrenhaben – das enthält für mich sehr viel Ambivalentes. Erinnerungsspuren etwa oder Zweifel. Aber es geht natürlich auch um Wissen – dafür haben wir immer einen Kanon. Durch den Zeitgeist; durch das, was wir Kindern nahe bringen, was wir ihnen zutrauen.

Das läuft unter der Hand . . .

. . . und wenn das ohnehin so ist: Darf man das nicht erweitern und verbessern? Ich finde, es steht den Kindern zu, Kontakt mit Ähnlichem zu bekommen.

Die wenigsten Siebenjährigen dürften je ein chinesisches Schriftzeichen gemalt haben.

Meine Liste enthält nichts, von dem ich von vornherein sagen würde, dass es übertrieben oder überflüssig ist. Es ist nichts dabei, was ich nicht jedem Kind wünschen würde. Es besteht ja kein Zwang, das alles in ein einziges Kinderleben zu pressen.

Ein offener Kanon? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Wo er Widerspruch auslöst, kann er gern dazu anregen, unser Beispiel durch etwas anderes zu ersetzen. Er soll ruhig die Fantasie in Gang bringen, den Möglichkeitssinn stärken.

Auf Ihrer Liste finden sich ausgesprochen bildungsorientierte Dinge. Es ist von Gedichten und von klassischer Musik die Rede. Dagegen fehlen Fernsehen oder Popmusik.

Na, ich finde, es hat nicht viel mit Bildungsbeflissenheit zu tun, dass Kinder mal etwas repariert haben sollten. Oder mal in einen Bach gefallen sein sollten. Ich habe nichts gegen Bildung – auch wenn ich nicht sagen würde, Kinder sollten ein Gedicht von Hölderlin aufgesagt haben. So etwas würde nie von mir kommen . . .

. . . aber Sinfonien mitdirigieren.

Das Beispiel mit der Sinfonie habe ich in Japan erlebt. Kinder hörten das dort, vom Rekorder, jeden Tag im Kindergarten – und begannen zu dirigieren. Die Wilderen mit großem Armschwung, die Schüchternen ein bisschen verhaltener. Es war etwas ganz Normales für die Vierjährigen in einer japanischen Kleinstadt, Mozart zu dirigieren. Es wurde ihr eigenes Stück.

Könnten Sie sich vorstellen, eine Fernsehfolge von „Heidi“ in Ihren Kanon aufzunehmen?

Aber ja! Heidi ist etwas Wunderbares. Da wird ein Konzept von Heimweh vermittelt – und die Erfahrung, dass man es überwinden kann.

Bedeutet ein Bildungskanon auch eine Kampfansage an das Prinzip des „freien Spiels“?

Hinter der Debatte um das Freispiel steckt oft viel Ideologie. Nicht jedes unangeleitete Tun von Kindern ist aber gleich Spiel. Ich würde Kindern wünschen, dass sie Ruhe und genug Stoff haben, um Spiele wirklich entwickeln zu können. Vieles von diesem Freispiel ist – in Kindergärten – manchmal ein oberflächliches Sich-selbst-überlassen-Sein. Mit sinnvollen Anstößen können Kinder das Freispiel dagegen zu einer großen Meisterschaft entwickeln.

Das hört sich an, als plädierten Sie für Leistungsdruck.

Warum nicht? Kinder leisten ständig unglaublich viel. Schon vor dem Eintritt in die Welt, etwa wenn sie, wie man mittlerweile weiß, die eigene Geburt mit in Gang setzen. Sie machen sich auf den Weg. Diese Vorwärtsbewegung, diese ständige Eroberung von Neuem durch Fixieren, Greifen, Laufen, Sprechen – das sind alles ungeheure Leistungen. Ich will die Eltern sensibler dafür machen, was ihre Kinder kognitiv schon leisten! In dieser Form habe ich überhaupt nichts gegen Leistung einzuwenden.

Haben Sie keine Angst, dass beflissene Eltern versuchen, Ihre Liste abzuhaken, und die Kinder so unter Druck setzen?

Vieles kann man gar nicht abhaken. Ein Kind sollte zum Beispiel eine Anekdote aus dem Leben der Großeltern kennen, es sollte mit dem Vater ganze Tage verbringen oder von ihm bei einer Krankheit gepflegt worden sein – das kann man nicht nebenbei erledigen, das braucht Zeit.