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Die Insel auf der Insel

■ Spurensuche auf Helgoland. Die Insel hat ein kleines Kunstfestival – und sogar einen kleinen Kunstkonflikt

Ein Fuselfelsen, dessen Baulichkeiten den Charme der Vorstadt aus „Edward mit den Scherenhänden“ ausstrahlen – so denken viele von Helgoland. Einer, der das ganz anders sieht, ist der Künstler Reinhard Geßler: „Helgoland hat mein Leben verändert“, sagt er leise und nicht ohne Pathos. Nach längerem Suchen habe ich ihn in einem versteckten Winkel des Meerwasser-Schwimmbades am Helgoländer Nordosthafen aufspüren können. Umgeben vom lärmenden Badebetrieb mit Currywurst-Freisitz strahlt der zurückhaltende Mann eine ganz eigene Aura aus: Ein Künstler mitten drin in der Alltäglichkeit – und offenbar absolut zufrieden damit, von niemandem wahrgenommen zu werden.

Er ist überrascht, angesprochen zu werden. Dann macht er aber ein paar Andeutungen zu der Arbeit, die er gerade an einer Außenmauer des Bades anbringt: Schwarz-weiße Muster und Symbole kriechen über die Wand; wer genau hinsieht, kann zwischen Schlangenlinien und Eulen, umgedreht und von rechts nach links, „Helgoland“ lesen. „Helgoland steht Kopf“, erläutert Geßler – und es ist nicht ganz klar, ob er einfach den Titel seines Werkes meint, die Verhältnisse im Freibad kommentiert oder das Programm des zweiten Helgoländischen Kunstsommers buchstabiert, der am 30. Juni eröffnet wurde und bis zum 26. August läuft.

Die Künstler der Gruppe PARADOX haben sich vorgenommen, die nach britischen Bombardements unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von Bombenkratern zerfurchte und durch Duty-Free-Sommerfrischler gemarterte Insel in eine große Galerie zu verwandeln. Sie wollen, so könnte man interpretatorisch weit ausholen, den Erholungs- und Dienstleistungsalltag auf dem Hochseefelsen durch versteckte Markierungen wie Geßlers Freibad-Wand umwerten. Aber aufwändige theoretische Programme meidet die Gruppe um J. B. Antony wohl grundsätzlich. Das Motto des Festivals lautet schlicht und diffus: „Kunst ist eine Insel“.

Einer, der an der Durchsetzung Helgolands mit Kunst und kunstnahen Objekten schon seit langem arbeitet, ist Gerhard Siegismund. Das sieht man unter anderem in der Paracelsusklinik, der Arbeitsstätte des Arztes. Vom Oberland aus betrachtet, wo bröselnde Bunkerreste aus den Klippen ragen, erinnert das in eine sandige Kuhle gebaute Kurkrankenhaus mit dem riesigen roten Kreuz auf dem Dach an ein Militärhospital. Es sieht aus, als fürchte man sich vor weiteren Bombardierungen. Im Klinikfoyer aber, das zu den vielen skurrilen Ausstellungsorten des Kunstsommers zählt, überschreiben die bunt bemalten Holzskulpturen des Arztes diese Eindrücke. Fast können sie der tristen Kur-Funktionalität Herr werden. „Die Osterhäsin“ – kess umgelegtes Ohr, ausgeprägte Brüste mit tiefroten Warzen – ist auf den Empfangstresen geklettert. Zusammen mit der „Weihnachtsmännin“ und anderen wild-mythologischen Figuren steht sie einer regulären Nutzung des Foyers im Weg. Lincoln ist auch da und beschützt einen zwergenhaften freigelassenen Sklaven. Krankheit, Alltag und Kunst fließen ineinander: Wie Kunst werden in einer Vitrine des Krankenhausfoyers auch Spezialbesteck für Parkinson-Kranke und gebatikte Tücher aus der Therapie ausgestellt. Der Funke springt über: Ein Patient im Rollstuhl überreicht einer Besucherin selbstgemachte Gedichte.

Eine gewisse therapeutische Dimension haben auch die Bilder der Hessin Marina Baron. Eigentlich hätten sie im Rathaus hängen sollen, aber eine ominöse Frauenbeauftragte, die offiziell nie in Erscheinung getreten war, erzwang pünktlich zur Festival-Eröffnung die Abhängung. So viel Phallus sei den Helgoländer Gemeindemitarbeiterinnen nicht zuzumuten. Der Bürgermeister tritt zwar als Schirmherr des Kunstsommers auf, aber in dieser heiklen Sache wollte er sich nicht einsetzen, und so zeigt mir die erboste Künstlerin ihre Gemälde in der „Hummerbude“, der ständigen Galerie von PARADOX am Binnenhafen. Beinahe schon aggressiv in ihrer Emotionalität, stellen viele von Barons Arbeiten ein Thema dar, das zwar nicht unbedingt neu ist, hier aber sehr intensiv und authentisch rüberkommt: die Gewalt, die der männliche Blick der Frau antut. Jetzt steht im Rathaus noch der Wörterbaum von Gitta Witzke: Seine aus sauber gefertigten Holzlettern zusammengesetzten Teile sagen uns, was sie sind: „Baumstamm“, „Ast“, „Blatt“. Konkreter und unverfänglicher geht es nicht mehr.

Wenn man aber von Marina Barons Verbannung aus dem Rathaus absieht, scheinen die KünstlerInnen auf Helgoland keine großen Probleme zu haben, auf Toleranz für ihre Aneignungen des Alltags zu treffen. Und das liegt natürlich daran, dass man sie ignoriert. Charlotte Forsters Rauminstallation, das von allen Kunstwerken des Sommers in der Presse meistbeachtete, duckt sich in einen leeren Geschäftsraum am Südhafen. Das Kaffee nebenan drückt die Geringschätzung der Kunst sehr sinnfällig aus: Ein Sonnenzelt hat man so vor den Eingang gestellt, dass die Tür kaum noch aufgeht. Die vielen bunten Plastikeimerchen, die – mit Helgoländer Sand gefüllt – die britische Flagge ergeben, sehen in der Düsternis ein bisschen traurig aus.

Aber Kunst ist, wenn man trotzdem hingeht, sie hängt am Willen des Betrachters. Wer auf den Sandsteinfelsen kommt, um Kunst zu finden, muss eben ein österliches Mindset mitbringen: Eiersuchen. Und dass das Spaß machen kann, weiß man ja. Es geht darum, die Insel auf der Insel zu entdecken. Das könnte es sein, was Menschen wie Antony oder Geßler so sehr an dieses von Natur aus eintönig-rauhe und durch Ferienbetrieb doppelt unwirtliche Eiland bindet: Helgoland – zweimal in eine Festung verwandelt und zweimal vernichtet, dann sogar von den Briten gesprengt und schließlich von der bundesdeutschen Wiederaufbau-Politik zu einer Qualm- und Fuseloase gemacht – ist ein konsequent zweckfreier Ort, ein soziopolitisches Gesamtkunstwerk, wo man auch baden kann. Oder Vögel beobachten.

Ein Besuch auf der Insel könnte sich also lohnen – zumal der Kunstsommer noch einiges mehr umfasst, als hier beschrieben wurde. Einige Kunstwerke sind erst am Entstehen: so die Skulpturengruppe „Die Sieben Todsünden“, die J. B. Antony dieser Tage aus alten Schwimmfendern errichtet. Ab und an gibt es auch ein Abendprogramm, das dann genossen werden kann, wenn Helgoland am schönsten ist: nachdem die Tagestouristen die Insel verlassen haben. Wem all dies noch nicht genügt, der könnte auch noch das Sommerprogramm der evangelischen Kirche in Erwägung ziehen. Wie wäre zum Beispiel mit dem Vortrag „Pastorentypen bei Fontane“, gehalten von Pastor Lukas aus Lübeck am 26. Juli im Gemeindehaus? Und zuletzt könnte man sich abends mit einem Fläschchen von dem hier nun wirklich sensationell günstigen Single-Malt auf die Klippe setzen. Dann würde auch ganz bestimmt wahr, was Herr Geßler verspricht: „Helgoland steht Kopf!“

Zeno Ackermann

Wer von Bremen aus auf die Insel will, kann mit dem schnittigen Schnellboot vom Martini-Anleger aus fahren; das kostet zwar 102 Mark, dauert aber nur vier Stunden. Richtig lohnt sich das aber nur, wenn man auch über Nacht bleibt. Infos und Karten bei der Bremer Touristik-Zentrale am Martini-Anleger, unter Tel.:  04464/94 95 0 und Tel.:  0421/36 36 719 sowie unter www.reederei-warrings.de

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