geschichten, die ich eben schrieb. IX: wettlauf der gemütlichen von JOACHIM FRISCH
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Gelassenheit ist eine schöne Sache. Gelassen bin ich, wenn ich alle zwei bis drei Wochen für drei bis vier Stunden in meinem Lieblingscafé herumsitze, fünf bis sechs Tassen Kaffee trinke, in Illustrierten blättere, Leute beobachte und warte, bis mich die Muse küsst. Leider verschwindet die Gelassenheit, sobald begehrte Güter knapp werden, zum Beispiel freie Stühle im Lieblingscafé.

Schon von draußen sehe ich durch das Türglas, dass freie Plätze rar sind. Mit mir nähert sich eine Mittvierzigerin im Wickelrock und mit rot gefärbter Ananasfrisur, offensichtlich eine Konkurrentin. Sie hat die Situation begriffen und beschleunigt just fünf Meter vor der Tür den Schritt. Obwohl ich meine „Clever & Smart“-Sammlung darauf verwette, dass diese Dame nicht einmal weiß, was Schumi für eine Automarke fährt, gelingt es ihr mit diesem raffinierten Manöver fast, mich auszubremsen und sich in die Poleposition zu bringen. Ich pariere mit einer tänzelnden Körperdrehung um neunzig Grad, ähnlich einem Florettfechter, der den Gegner die Klinge ins Leere stoßen lässt. So betreten wir gemeinsam das Café, sie frontal, ich quer, mit der linken Schulter zuerst, beide gequält lächelnd.

Tatsächlich ist nur ein Stuhl frei. Schon tobt in Brust und Bregen ein Kampf zwischen dem Kavalier in mir und dem Hedonisten, begleitet vom Schlachtenlärm drängender Fragen: Ist sie so hübsch, dass der Hedonist dem Kavalier den Vortritt lässt? Nö. Doch sie ist nicht so unsympathisch, dass es mir wurscht ist, was sie über mich denkt. Oder was sie sagt, womöglich zu den anderen Gästen. Und diese anderen, die nichts Besseres zu tun haben, als stundenlang im Café zu sitzen und unsereins zu beobachten – wer von denen kriegt es mit, wenn ich kurz die Kinderstube vergesse? Wer von denen, die es mitkriegen, kennt mich? Wer von denen, die mich kennen, erzählt es weiter? Wem und wie erzählt er (oder sie) es weiter? Schmückt die Petze es aus und lässt mich gar die Dame rabiat aus dem Weg schubsen? Soll ich mich auf einen Wettlauf einlassen, um dann im letzten Moment den Gentleman zu geben? Auf die Gaffer pfeifen und mein Recht auf Gemütlichkeit durchsetzen? Oder ohne Gewese kapitulieren? Vielleicht gibt es ja eine ausgleichende Gerechtigkeit, etwa einen auf ewig garantierten Stammplatz an jenem Tisch am Fenster, an dem es nie zieht. Vergiss es, denkt es im Oberstübchen, das flugs eine Liste mir widerfahrener Gerechtigkeit und eine Liste der Bestrafungen des guten Willens zusammengestellt hat: Erstere ist nicht größer als die Visitenkarte meines Gemüsehändlers, zweitere hat die Ausmaße einer Familienpackung Haushaltspapierrollen von Aldi.

Der hier in wenigen Zeilen geschilderte innere Kampf hat nur Bruchteile einer Sekunde gedauert, denn meine Gedanken sind tausendmal schneller als das – mit Verlaub – träge Auge des Lesers. Doch dieser Sekundenbruchteil hat der gewickelten Dame genügt, mir die Entscheidung abzunehmen. Sie sitzt. Ich stehe am Tresen, die Beine müde, die Gelassenheit fern, der schöne Tag dahin. Vielen Dank dafür. Alte Vettel.