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Ein Stück Himmel über der Straße

Obdachlos ist Charlotte Ahrweiler seit zwei Jahren nicht mehr. Doch noch immer ist sie 16 Stunden am Tag auf der Straße. Um hier draußen zu helfen  ■ Von Anke Brodmerkel

Vor dem silbernen Pfeiler am Ausgang Steindamm des Hamburger Hauptbahnhofs hat sie sich niedergelassen. Sie sitzt auf ihrem Klapphöckerchen, ein weiter, schwarzer Faltenrock bedeckt ihre kurzen Beine. Ein grüner Parka und eine Wollmütze, die mal weiß gewesen sein muss, schützen sie vor der Kühle des Frühlingsabends. Charlotte Ahrweiler macht Musik. Straßenmusik. Die macht sie seit zwanzig Jahren. Früher Schifferklavier, heute Mundharmonika. Das Schifferklavier ist kaputt, ein neues war zu teuer.

Ihr rechter Fuß tippt rhythmisch auf den Asphalt. In der linken Hand hält sie eine Art Handpuppe: einen zottigen, schwarzen Vogel mit einem großen, roten Schnabel, der im Takt der Musik auf- und zuklappt und dabei quäkende Töne von sich gibt. Um sie herum stehen drei große Plastiktüten, eine Stofftasche und ein Pappbecher mit ein paar Münzen drin.

Charlotte ist 67 und lebt auf der Straße. Zumindest tagsüber, denn seit zwei Jahren hat sie eine Ein-Zimmer-Mietwohnung. So richtig aufgeben will sie ihr früheres Leben dennoch nicht. „Hier kennen mich doch alle. Und ich weiß, dass die Leute hier, Alkoholkranke, Drogenabhängige, Behinderte – die warten doch auf mich. Darauf, dass ich Musik mache. Und weil sie von mir immer ein freundliches Wort bekommen.“

Acht Jahre lang war sie ohne eigenes Dach über dem Kopf. „Davor hatte ich eine Wohnung in Iser-brook, aber die ist ausgebrannt.“ Einen Moment lang schauen ihre fast wimpernlosen, fahlblauen Augen nachdenklich in die Ferne. „Heiligabend hab ich eine Kerze angemacht und bin eingeschlafen – und hab die Kerze runtergeworfen. Weil ich so unruhig schlafe.“ Als sie wieder aufwachte, brannte die Wohnung lichterloh. Acht Wochen musste sie im Krankenhaus bleiben. Ihr Gesicht und ihre Hände waren verbrannt. In den Händen hatte sie ihr brennendes Kaninchen gehalten. „Und dann bin ich vom Krankenhaus auf die Straße und hab mich in Altona, da wo der Judenfriedhof war, an die Toilette und um die Toilette drum rum, wo viele Obdachlose übernachtet haben – da hab ich mich dazwischengemischt.“ Die Männer dort haben ihr was zu essen abgegeben, und an den Wochenenden hat sie dafür Kaffee und Kuchen gekauft.

„Eine Frau unter all den Männern!“ Ein wenig Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Angst? Hatte sie nicht. „Im Gegenteil. Bei den Männern, da hatte ich meine Ruhe. Die sagen ihre Meinung, und dann hat sich das. Bei Frauen ist das anders, die sind sehr, sehr nachtragend.“ Hat Charlotte überhaupt manchmal Angst? „Nein, nie.“ Nie? Nie.

Ein Herr im Trenchcoat bleibt vor ihr stehen. Er wirft eine Münze in den Becher. Nicht so im Vorübergehen. Er bleibt richtig stehen – hört ihr eine Weile zu und lächelt. Auch ein junger Mann im Rollstuhl macht Halt. Er und Charlotte scheinen sich zu kennen. Sie flachsen ein wenig herum, und erneut landet ein Geldstück im Becher. Charlotte bedankt sich und greift wieder zur Mundharmonika.

Ein kleiner, etwas untersetzter Mann mit Schirmmütze schwankt in ihre Richtung. „Mann, Charlodde, bin ich heut' bedrung'n...“ Seine Nase läuft, die Rotze bleibt zwischen den schmutzigen Bartstoppeln hängen. Sein Atem stinkt nach Korn und kaltem Zigarrenrauch. „Macht doch nichts. Hauptsache, es hat geschmeckt!“, tröstet Charlotte und tätschelt ihm die Wange.

„Was soll ich ihn denn ausschimpfen? Das bringt doch nichts. Meine Worte dagegen streicheln seine Seele.“ Ein Lächeln zieht über ihr vernarbtes Gesicht. Sie selbst lehnt den angebotenen Schluck Korn ab. Alkohol trinkt sie höchstens mal, „wenn einer was zu feiern hat.“ Der Mann zieht Charlotte am Arm: „Komm, jetz' sing wa' ein' zusammen.“ Sie protestiert energisch: „Nää, nu' muss ich auch mal was arbeiten!“

Was trägt sie bloß in all den Taschen mit sich herum? „Och, hauptsächlich Kleidung und was zu Essen.“ Charlotte zieht mehrere kleinere Papiertüten aus einer lila Plastiktasche heraus. „Hier, Kuchen. Und darin sind Brötchen.“ Die hat sie mitgebracht vom Frühstück in der Kemenate, einer Tagesstätte für obdachlose Frauen. „Wenn dann einer Hunger hat oder friert, dann kann ich ihm was abgeben.“

Doch für heute macht sie Schluss. Vogel und Mundharmonika werden eingepackt, die Münzen finden ihren Weg in die Jackentasche. Neun Mark hat sie heute verdient. Den Klapphocker und die lila Plastiktüte auf den Rücken geschnallt, eine Tasche in der einen, zwei in der anderen Hand, macht sie sich auf den Weg zur U-Bahn. Voran geht es nur langsam – die Frau ist gerade mal einsfünfzig groß.

In der Kneipe „Bei Henry“ nimmt Charlotte ihr Abendessen ein. Eine Tasse Kaffee und ein Schmalzbrot. Wie jeden Abend. Kostet zusammen vier Mark. Jetzt hat sie Zeit, von ihren Plänen zu erzählen. Eine kleine Villa möchte sie kaufen. Bei Senatorin Roth hat sie wegen des Geldes schon vorgesprochen. „Ich will mit anderen Künstlern, die jetzt noch auf der Straße leben und alleine sind, zusammen wohnen und arbeiten. Und ich habe mir gedacht, die Künstler, die bei mir mitarbeiten und ausstellen wollen, die können sich ihre Wohnung dann selber herrichten.“

Ausstellen, das möchte sie auch. Aus einer ihrer Taschen kramt sie einen Pappteller hervor. Den hat sie selbst bemalt, mit Nagellack: zwei Menschen, Mann und Frau, auf einem grünen Hügel, die mit ausgestreckten Armen aufeinander zulaufen. Darüber Himmel. Ist sie selbst diese Frau? „Nein.“ Vielleicht wäre sie es gerne. Charlottes Mann ist vor 30 Jahren an Krebs gestorben.

„Und jetzt warte ich darauf, dass jemand kommt und sagt: Wollen wir nicht zusammen arbeiten? Einer, der mich gern hat – und den man auch gern haben kann.“ Sie zieht ein Gedicht aus ihrer Tasche. Das hat sie selbst verfasst. Es heißt: Der Himmel tut sich auf.

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