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Maurische Skizzen

Zusammenfügen, was zusammengehört: Die spanische Gruppe Radio Tarifa puzzelt Andalusisches und Arabisches zum transmediterranen Stilmosaik. Ihre Synthese will an Traditionslinien anknüpfen, die nach dem Mittelalter gekappt wurden

von DANIEL BAX

Ach, Europa! Einst soll Zeus von der gleichnamigen Göttin so angetan gewesen sein, dass er sie kurzerhand aus Sidon kidnappte, einem Ort, der im heutigen Libanon liegt. Mit Gewalt brachte er sie auf jene Seite des Mittelmeers, der die Entführte später ihren Namen leihen sollte. So nahm die Geschichte des Abendlands ihren Anfang.

Das Mittelmeer ist reich an Mythen. Heute markiert es aber auch die Grenze zwischen dem wohlhabenden Norden und einem armen Süden, dazu die zwischen dem Islam und der westlichen Welt. Wer vor diesem Hintergrund auf den historischen Kulturraum verweist, den das Mittelmeer einst bildete, will meist hervorheben, dass der Kontinent nicht nur ein griechisch-römisches, sondern auch ein arabisch-islamisches Erbe in sich trägt. Das ist auch das Anliegen von Radio Tarifa. „Die Spanier denken gerne, dass sie nur Europäer sind“, glaubt Vincent Molino, der in der spanischen Gruppe Flöte spielt. „Tatsächlich waren sie dem Maghreb lange sehr viel näher als anderen Nachbarn. Europa hat viele Realitäten. Man kann das nicht reduzieren auf die westliche Geschichte seit dem 15. Jahrhundert.“

Damals erfolgte der große Bruch: 1492 fiel Granada, die letzte maurische Bastion auf der Iberischen Halbinsel, an die spanischen Krone, die von da an alle arabischen und jüdischen Einflüssen zu tilgen versuchte. Im gleichen Jahr landete Kolumbus in Amerika, mit dessen Entdeckung die Handelswege des Mittelmeers allmählich an Bedeutung verloren. Doch die jahrhundertealten Verbindungen haben bis heute ihre Spuren hinterlassen. „In Spanien werden noch viele Traditionen gepflegt, die ihre Ursprünge den großen Zivilisationen verdanken: den Griechen, den Pharaonen, den Römern und den Arabern“, fasst Fain Duenes, der Kopf von Radio Tarifa, die Historie zusammen. „In der Zeit der alten Griechen zum Beispiel wurde ein Blasinstrument namens Aulos gespielt, eine Art Schalmei. Das gleiche Instrument ist auch auf alten iberischen Tonvasen abgebildet. Oder die arabische Ney, eine Bambusflöte – sie stammt von den alten Ägyptern und lässt sich mindestens 1.000 Jahre vor Christus zurückdatieren.“

Die Ney zählt zu den typischen Instrumenten der orientalischen Musik. Und es ist eines der Instrumente, die auch bei Radio Tarifa zu hören sind. Daneben beherrscht Vincent Molino, der in dem Trio für Blasinstrumente zuständig ist, aber auch solche längst aus der Mode geratenen Geräte wie die Cromorno, eine Art Oboe aus der Renaissancezeit – das verrät seine Herkunft von der Musik des Mittelalters. Schon in Montpellier hatte der Franzose sich der alten Musik verschrieben. Als er Mitte der Achtzigerjahre nach Madrid zog, schloss er sich einem Mittelalterensemble an und traf dort auf Fain Duenes. Der hatte gerade begonnen, sich für orientalische Perkussion zu interessieren.

Gemeinsam mit weiteren Musikern arbeitete man bald an einer Synthese aus traditionellen Klängen und modernen Arrangements. Das Konzept erwies sich als überraschend erfolgreich. 1993 erschien „Rumba Argelina“, das erste Album der Formation, zunächst im Eigenverlag. Doch weil es sich so gut verkaufte, nahm die spanische Tochter des internationalen Musikriesen BMG das Trio unter Vertrag, und ihr Album erschien, in neuer Aufmachung weltweit.

Nun da nach langer Bastelarbeit ihr drittes Album „Cruzando El Rio“ erscheint, sitzen die drei Musiker in einem schmucken Theatersaal in Barcelona, wo sie am Abend ein Konzert geben werden. Ein TV-Team hat eben noch ein Interview gemacht, das in den Spätnachrichten ausgestrahlt wird, und das Publikum, das allmählich das Foyer füllt, ist durchweg jung und eher studentisch angehaucht. Radio Tarifa sind in Spanien nicht unbedingt Popstars, die auf der Straße erkannt werden. Aber in der Musikszene haben sie einen sehr guten Namen: Ihr orientalisch gefärbter Akustik-Flamenco ist zwar nicht Pop, aber doch populär und eingängig. Und für ihre Single haben Radio Tarifa in den Straßen von Barcelona sogar ein Musikvideo gedreht. „Ich mag Barcelona – die Leute, das Stadtbild, das kulturelle Niveau“, sagt Fain Duenes. „Das Einzige, was mir nicht gefällt, ist der katalanische Nationalismus. Er hat, wie alle Nationalismen, etwas Ausschließendes.“

Der Überraschungserfolg ihres Debütalbums vor sieben Jahren ermöglichte es den Musikern, ihre eigentlichen Berufe an den Nagel zu hängen. Denn ursprünglich waren alle drei in völlig anderen Branchen unterwegs: Vincent Molino ist von Haus aus Hydrologe, mit der Wasserwirtschaft vertraut; Benjamin, der Sänger, war beim Fernsehen tätig; und Fain Duenes ist Architekt. Anfang der Neunziger hatte es ihn kurzzeitig sogar nach Deutschland verschlagen. Er war seiner Freundin, die einst nach Madrid gezogen war, um dort Flamenco-Tanz zu studieren, nach Hamburg gefolgt, und hatte einen Auftrag angenommen, an der Restaurierung der St.-Jacobi-Kirche mitzuwirken. Nach diesem Job entschloss er sich jedoch zur Rückkehr nach Madrid – auch, weil der Erfolg seiner Platte ihn davon überzeugte, das Projekt Radio Tarifa fortzuführen. „Ich war 42, als ich nach Hamburg zog. Vielleicht war ich zu alt, um mich umzustellen“, bedauert Fain Duenes trotzdem. Dafür beherrscht er nun immerhin ein paar Brocken Deutsch.

Auch Radio Tarifa verfolgen eine Form der Denkmalpflege. Oft ähneln ihre Kompositionen einem quasiarchäologischen Puzzlespiel, das der Frage gilt: Wie würde die spanische Musik heute wohl klingen, wenn die Reconquista der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert nicht so gründlich gelungen wäre? „In der Architektur ist es viel einfacher, den Spuren der Geschichte zu folgen, als in der Musik: Die Gebäude sind ja noch da“, weiß Fain Duenes. Wie die Musik des Mittelalters geklungen hat, kann man indes nur vermuten. „Im Mittelalter waren Córdoba und Byzanz die musikalischen Zentren, und alles orientierte sich daran. Erst im 15. Jahrhundert hat die europäische Musik einen Sonderweg eingeschlagen. Bis dahin stand sie der arabischen Musik sehr nahe, was ihren modalen Charakter, ihre Rhythmen und die Instrumente anbelangt.“

Die latent altertümliche Aura der Musik von Radio Tarifa verleitet leicht zu der romantischen Vorstellung, sie müsste irgendwo in Andalusien entstehen, womöglich im Schatten der Alhambra. Tatsächlich trifft sich die Band in einer Garage in Madrid. Dort haben sich die Musiker ein Studio eingerichtet, wo sie proben und komponieren. Mehrere Monate feilen sie meist an ihren Stücken, ihre Ideen entwickeln sie aus dem Zusammenspiel.

„Madrid ist so etwas wie ein Melting Pot der verschiedenen Kulturen Spaniens“, findet Fain Duenes. „Das macht die Stadt zu einem perfekten Ort für uns: für einen Franzosen wie Vincent, für Benjamin, unseren Sänger, der aus Granada stammt, und mich, der ich aus Kastilien komme. Wir leben alle in Madrid und fühlen uns, als wären wir von dort.“ Der kosmopolitische Charakter der Stadt ermöglicht den Austausch mit Musikern, die aus Marokko, Ägypten oder dem Iran kommend, in der Kapitale eine temporäre Heimat gefunden haben. In den Bars von Madrid finden die Musiker von Radio Tarifa die Partner zur gemeinsamen Improvisation. Nur einen Nachteil habe Madrid, findet Fain Duenes: „Zu laut“ sei die Stadt, und die Häuser oft zu hellhörig, so dass man den Nachbarn beim Streiten zuhören könne. Die hanseatische Ruhe ist es, die er an Deutschland am meisten vermisst.

Tourneen haben Radio Tarifa schon um den ganzen Globus geführt, bis nach Australien, Brasilien und die USA. Die größte Resonanz findet ihre Musik aber in den Ländern rund ums Mittelmeer. „In Frankreich haben wir unser größtes Publikum“, schätzt Fain Duenes. „Wir sprechen dort auch die Rai-Hörer an. Es sind immer viele Algerier da, wenn wir dort spielen.“ Aber auch anderswo findet ihr Stilmosaik Anklang. „Ein Freund von uns kam gerade zurück aus Istanbul und hat uns erzählt, dass unsere letzte Platte dort überall in den Läden läuft“, berichtet Fain Duenes stolz. „Das zeigt, dass sie dort wohl ganz gut ankommt.“ Vor einigen Jahren waren Radio Tarifa zu Gast beim Jazzfestival in Istanbul, in dessen Instrumentenläden Fain Duenes gerne stöbert. Und oft stößt er auf seinen Reisen auf Gleichgesinnte. Denn ob in Thessaloniki oder Istanbul, Süditalien oder Südfrankreich – überall gibt es Gruppen und Interpreten, die lokale Traditionen ihrer Region aufgreifen und neu aufpolieren. Für Fain Duenes ein Indiz, dass sich das Mittelmeer zurückmeldet.

Der Ort Tarifa, nach dem sich die Band benannt hat, ist ein Symbol für jene kulturelle Schnittstellen, die das Mittelmeer so reichlich aufweist. Tarifa ist ein kleines Fünftausend-Seelen-Kaff am südlichsten Punkt der Iberischen Halbinsel, an der Meerenge von Gibraltar gelegen. Der reale Ort hat allerdings keine besondere Bedeutung, „für uns ist er lediglich eine Metapher“, erklärt Fain Duenes. Von Tarifa aus kann man, nur wenige Kilometer entfernt, Marokko sehen. Weil dort den ganzen Tag und das ganze Jahr über starker Wind weht, ist der Spot bei Surfern sehr beliebt. Außerdem werden hier nicht selten Boote mit Flüchtlingen vom afrikanischen Kontinent an Land gespült.

Es gibt sogar eine eigene Radiostation in Tarifa. Gerade als Radio Tarifa ihre erste Platte heraus gebracht hatten, erhielten sie in Madrid einen Anruf von den Betreibern: Sie baten darum, eine Platte geschickt zu bekommen. Dass sie dort allzu oft zum Einsatz kommt, daran hat Fain Duenes allerdings so seine Zweifel: „Es ist eine sehr, sehr kleine Radiostation – im Grunde gibt es dort nur einen einzigen Mann. Der legt da eine CD auf und geht dann runter, um Bier zu holen. Wenn die CD zu Ende ist, muss ihm jemand Bescheid sagen, dass er eine neue auflegen muss – dann geht er wieder hoch.“

Radio Tarifa: „Cruzando El Rio“ (BMG / World Circuit). Tournee: 23. 7. München, 25. 7. Kassel, 26. 7. Karlsruhe, 27. 7. Berlin, 28. 7. Darmstadt, 29. 7. Nürnberg

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