ulrike hermann über Non-Profit
: Retter der ungeliebten Bücher

Seine Adresse verbreitet sich im Osten an verzweifelte Bibliothekare und Erben: Horst Herkner, Antiquar

Ein Superlativ des Superlativs heißt „weltweit erstes“. Auch Google weiß danach zu suchen. Ergebnis: Japan hat das weltweit erste John-Lennon-Museum, die Niederlande das weltweit erste Sterbehilfegesetz und Berlin das „weltweit erste High-Tech-Wartehäuschen“. Diese Auswahl ist allerdings unfair. Denn Berlin hat auch das weltweit erste Bibliotheksmuseum. Jedenfalls fast. Noch ist es ein gigantischer Bücherstapel.

Von außen sieht alles ganz normal aus. Eine ruhige Straße in Prenzlauer Berg sieht aus, wie eine ruhige Straße dort neuerdings so aussieht. Auf ungefähr fünfzig Metern finden sich ein italienisches Restaurant, ein Thai, ein Araber, ein Spanier und ein Weltmeister des Frisierens. Dazwischen steht ein bescheidener Bücherstand vor der Tür. Aha, ein Antiquariat, war ja auch gar nicht anders zu erwarten.

Doch dann die Irritation: Für fünf Mark, einfach so in der Sonne, liegt da der beste Bildband, den ich je über die Albrechtsburg in Meißen gesehen habe. Sensationelle Schwarzweißaufnahmen und ein kundiger sozialhistorischer Test. Eine liebevolle Hymne an eines der wichtigsten Bauwerke Deutschlands. Sorgsam eingebunden, mit Folie und Gewebeband. Als sollte es für immer halten. Doch gleich auf der ersten Seite leuchtet der Todesstempel: „Gemeindebibliothek Binz. Ausgesondert“.

Es ist ein DDR-Buch. Fast wäre es vernichtet worden, wie schon geschätzte 50 bis 80 Millionen Bände. Gerettet hat es Horst Herkner. Ein ehemaliger Kleinverleger aus Kreuzberg, 51 Jahre alt, der mit seinem grauen Zopf und der runden Brille gar nicht in die neu-schicke Umgebung passen will. Ein Büchernarr, der die massenhafte Vernichtung von Kulturgut nicht erträgt. Und also sammelt er seit 1997 wahllos DDR-Werke ein, nimmt alles, was ihm verzweifelte Bibliothekare aufdrängen. Denn von einst 19.000 Büchereien sind 16.500 geschlossen worden. Es gab sie selbst in kleinsten Dörfern, aber auch bei Gewerkschaften, Kombinaten, Armee.

Inzwischen hat Herkner über eine Million Bücher herbei geschafft, umgerechnet sind dies 200 Lkws, macht einen Kilometer Lastwagen. Er weiß nicht, wo er die Papiermassen lassen soll. Und täglich kommen mehr. Denn nach den Bibliotheken rollen jetzt die Nachlässe an; seine Adresse verbreitet sich überall dorthin, wo sich Umzügler ins Altersheim oder Erben von den DDR-Lesefreuden trennen wollen, aber nicht grausam zu ihnen sein möchten.

Wie von selbst hat sich so eine vollständige Bibliothek der Ost-Ausgaben angesammelt. Etwa 200.000 Titel wurden in der DDR verlegt; „99 Prozent“ hat Herkner schon in der Hand gehabt. Das meiste mindestens doppelt: „In jeder Kiste taucht Ilja Ehrenburg auf, ‚Der Fall von Paris‘ “.

Auch die Einrichtung fürs Museum gibt es schon. Denn Herkner hat in den abgewickelten Bibliotheken nicht nur Bücher mitgenommen, sondern auch Stempel und Plakate, originale Tapetenrollen und Vorhangstoffe, eine echte Kittelschürze und „Materialien zur Literaturpropaganda“.

Fehlt eigentlich nur noch ein Museumsort oder schnöder: das Geld. Der Verkauf der Dubletten bringt kaum etwas ein, obwohl er in drei Antiquariaten rund um den Kollwitzplatz stattfindet. Drei? Herkner meint auch, „eigentlich ein bisschen viel“, aber anders seien die Bücher nicht unterzubringen. Das leuchtet ein: Ein Laden ist so voll gestopft, dass er geschlossen bleibt, weil man ihn nicht betreten kann; im zweiten verschwindet die Kasse hinter Büchern. Am besten funktioniert der Vertrieb übers Internet (antiquariat@bls-berlin.de).

Selbst nach Japan, Singapur und in die USA sind Bücher gereist. Dort interessieren vor allem Mode, Kunst und Literatur der DDR. Westdeutsche hingegen suchen nur Klassiker. Kafka, Mann, Stefan Zweig, Hesse. „Die sind nicht neugierig, kaufen nur, was sie kennen.“ Ostdeutsche wiederum sammeln, wollen Serien komplettieren. Fragen nach Johannes Tralow oder Harry Thürk.

Sie alle könnten aber ebenso erfolgreich die Biografie von Gorbatschow auf Englisch verlangen. Auch sie hat einen Stempel: „Property of US Army“. Denn Herkner rettet inzwischen systemübergreifend, „aus Gag“. Und da gab es nun mal diese Bibliotheken, die die GIs hinterließen, als sie aus Berlin abrückten. Irgendjemand hatte die Idee, damit die Bezirke des Ostens zu beglücken. Die Bücherei in Cottbus erhielt 8.000 Bände – und war froh, sie an Herkner weiterzureichen. Die meisten Titel lassen selbst Uta Danella wie Hochliteratur erscheinen. Doch Herkner versichert, dass auch Gedichte von Cummings dabei waren. Dann sind sie wohl schon weg. Dafür ist aber die „unauthorized biography“ von Nancy Reagan noch zu haben – und damit das Allerletzte der Supermacht. Auch ein Superlativ des Superlativs.

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