: Angst vor dem zweiten Absturz
Das Hotel liegt noch in Trümmern. Die Narben des Unglücks sind deutlich sichtbar. Jetzt wächst in Gonesse die Angst vor einem zweiten Crash, doch die Gemeinde ist machtlos
PARIS taz ■ Was sich heute vor einem Jahr in Gonesse abspielte, lässt Michèle Fricheteau noch immer erschaudern. Plötzlich tauchte über der kleinen Stadt eine brennende Concorde auf und stürzte auf ihr Hotel. Nur ausgebrannte Fundamente blieben stehen. Zwei Angestellte und zwei Praktikantinnen kamen ums Leben. Deren Angehörige hat Fricheteau erst kürzlich besucht. Dass sie selbst verschont blieb, findet sie unfassbar.
„Seit dem Tag des Absturzes ist unser Leben von dem Drama und seinen Folgen bestimmt“, sagt sie. „Es ist, als erlebte man den Schrecken jeden Tag aufs Neue.“ Ihr Trauma hat sie in einem Buch verarbeitet: „Putain de crash“ – „Der verdammte Absturz“. Darin erinnert sie sich an ihre „wunderbaren Angestellten“, die ihr geholfen hätten, aus der Klitsche am Stadtrand von Paris eine anständige Herberge zu machen. Mit der Entschädigung, die ihr zusteht, will sie im französischen Überseegebiet Neukaledonien ein neues Hotel eröffnen – tausende Kilometer vom Unglücksort entfernt.
Doch die Mehrheit der 30.000 Einwohner wird bleiben – obwohl die Concorde bald wieder fliegen wird. „Auch wenn die meisten nicht darüber reden, ist die Angst groß, dass so etwas hier wieder passiert“, sagt der stellvertretende Bürgermeister Gérard Grégoire. „Man kann sich schwer vorstellen, wie das ist, wenn jede Minute eine Maschine über den Kopf hinwegdonnert.“
Grégoire hält die Entscheidung, die Concorde wieder fliegen zu lassen, nicht für einen Affront – aber sie kommt seiner Meinung nach viel zu früh. Betrübt räumt er ein, dass die Gemeinde über keinerlei Rechtsmittel verfüge, sich zu widersetzen. Die lokalen Behörden und die Bewohner wurden noch nicht mal nach ihrer Meinung gefragt oder über Erkenntnisse der gerichtlichen Untersuchung des Absturzes informiert. Ihre ganze Hoffnung setzen sie darauf, dass sich mit dem geplanten Bau eines dritten Großflughafens der Flugverkehr über Gonesse nicht noch weiter intensiviert. Voriges Jahr nahm der Personenflugverkehr des Flughafens Charles de Gaulles von Roissy laut Grégoire erneut um zehn Prozent und der Frachtguttransport um 15 Prozent zu.
Die Entschädigung der Hinterbliebenen erfolgte im Rekordtempo. Die Drohung der Anwälte der mehrheitlich deutschen Opfer, vor amerikanische Gerichte zu ziehen, erklärt das Tempo der Versicherungen aber nicht allein. Frankreich sieht es offenbar als Ehrensache, die finanziellen Schulden zu begleichen bevor wieder die ersten Linienflüge starten. Die Entschädigungssumme wird auf 230 Millionen Mark geschätzt. Opferanwalt Christof Wellens meint, der Concorde-Fall habe erstmals gezeigt, dass auch in Europa Schadensersatzansprüche in amerikanischen Größenordnungen möglich sind.
Nach Ansicht von Grégoire hat das gemeinsame Erleben der Tragödie eine starke Bindung zwischen den Familien der Opfer und der Pariser Vorortgemeinde geschaffen. Heute, am Jahrestag der Katastrophe, werden die Einwohner von Gonesse Blumen an der Unglücksstelle niederlegen. Wenn die französische Justiz das Gelände freigegeben hat, möchten sie hier ein Mahnmal errichten. RUDOLF BALMER
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