: Ein Guru für alle Fälle
Das Singen von heiligen Liedern erhebt die Anhänger des indischen Gurus Sathya Sai Baba wie Lotosblüten aus dem Sumpf. Sie verehren ihn, weil er sie nicht zur Abkehr von ihrem bisherigen Glauben auffordert. Er ist der Gott ihrer jeweiligen Religion
von SVEN HANSEN
Gottes selbst ernannte Verkörperung auf Erden hat ihren Zweitwohnsitz in einem Industrievorort der südindischen Metropole Bangalore. Denn hier in Whitefield residiert der Guru Sathya Sai Baba in den heißen Monaten. 16 Kilometer außerhalb des Zentrums der Softwarestadt hat der spirituelle Führer von Millionen Menschen seinen Sommer-Ashram. Zehntausende pilgern hierher, um zu singen, zu meditieren, neue Kraft zu tanken.
Vor dem Ashram verkaufen Anwohner Sai-Baba-Poster, Meditationskissen, weiße Baumwollkleidung. Das ummauerte Gelände betreten Männer durch den rechten Eingang, Frauen durch den linken. Zwei rosa vierstöckige Wohnhäuser für Anhänger und Schüler erinnern mit ihren blauweißen Kuppeln an eine künstliche Walt-Disney-Welt. Über einem Eingang sind kreisförmig die Symbole der großen Weltreligionen angebracht. Bei Sai Baba soll jeder seinem bisherigen Glauben treu bleiben, aber – seinen Regeln folgen. Statt missionarisch Abkehr von anderen Religionen zu fordern, stülpt er seine Lehre darüber. Seine Anhänger schätzen die von ihm behauptete Einheit und Gleichwertigkeit der Religionen.
Am Hauptplatz des Ashrams steht eine grauweiße Halle. Davor sitzen auf dem Boden geduldig Devotees, wie des Gurus Anhänger genannt werden, und warten auf Einlass – rechts die Männer, links die Frauen. Nach Metalldetektorkontrolle geht es barfuß in die Halle, wo sich die Jünger auf schwarzweißen Marmorkacheln niederlassen. An der Stirnseite hängen riesige Bilder des Meisters, der mit seinen langen Afrolocken aussieht wie ein aufgedunsener Jimi Hendrix. Die Bilder zeigen ihn stehend in langem, gelbem Gewand, sitzend oder winkend. Uniformierte indische Sai-Baba-Schüler betreten die fast volle Halle. Etwa drei Viertel der Anwesenden stammen aus Indien, der Rest kommt aus der ganzen Welt. Langhaarige Freaks aus Nordamerika sitzen neben skandinavischen Rentnern mit Opernglas und japanischen Yuppies. Sehnsüchtig blicken alle auf die Tür, durch die Er kommen muss.
Mit einem langen „Om“ bringen sich die 2.000 Menschen in Stimmung. Die Bhajans, die heiligen Gesänge, sind schon voll im Gange, als der von allen „Swami“ genannte Guru die Halle betritt. Er ist kleiner, älter und müder als auf den Postern. Sein orangefarbenes Gewand schleift über den Boden, als er auf seinen Thron zusteuert. 40 Minuten sitzt er dort, bewegt nur langsam die rechte Hand, während seine Anhänger im Rhythmus zu Trommeln und Akkordeon klatschen und singen, bis sie völlig durchgeschwitzt sind oder nur andächtig mit geschlossenen Augen im Lotossitz hocken.
Mit einem Glockenschlag endet die Musik. Sai Baba erhebt sich und entzündet eine Öllampe. Der Meister ist längst davongeschlichen, als die Menge Minuten später zu sich kommt. „Die Flamme dient der Reinigung“, erläutert Rolf aus Berlin-Kreuzberg, der schon zum dritten Mal hier ist, als die 15 Minuten der Stille vorbei sind. „Für mich hat das Singen befreiende und spirituelle Kraft.“
Die Lehren des Gurus und die von seinen Anhängern empfundene Kraft der Gesänge und Meditationen haben in der Bundesrepublik nach Angaben der deutschen Sathya-Sai-Organisation mittlerweile 30.000 Anhänger. Die erste Gruppe wurde in Deutschland 1978 gegründet. Heute gibt es 15 Zentren und 38 Gruppen mit 600 fest organisierten Mitgliedern.
Das Berliner Zentrum befindet sich in einer Fabriketage in der Kreuzberger Oranienstraße. An einer Pinnwand hängt ein Spruch des Meisters: „Das Feuer ist im Holz versteckt und Gott im Menschen.“ Daneben hängt Werbung für einen Direktflug nach Bangalore und ein Zettel: Devotee sucht Wohnung. „Einen Guru zu haben ist wie ein Gefühl des Vertrauens“, sagt Fritz, der jeden Donnerstagabend zum Singen der Bhajans hierher kommt. Der 62-jährige ehemalige Forstwissenschaftler ist seit einem Schlaganfall vor 13 Jahren halbseitig gelähmt. Durch Sai Baba habe er wieder Kraft gefunden. Immer an Weihnachten fährt er in den Ashram nach Indien. „Sai Baba gab mir die Antwort auf die Frage, wo komme ich her, wo will ich hin“, glaubt Fritz. „Ich sehe in Sai Baba Gott wiedergeboren, und der will mich zu sich holen.“
Als Naturwissenschaftler sei er zunächst sehr skeptisch gewesen, sagt Fritz. Doch dann habe er in einer Versammlung mit hunderten von Leuten im Ashram das Gefühl gehabt, Sai Baba gebe ihm ganz persönlich ein Zeichen. „Nachdem ich Sai Baba kennen gelernt hatte, habe ich mich wieder für meine evangelische Kirche interessiert“, erinnert sich Fritz. Er sei sogar in den Kirchenvorstand berufen worden, obwohl der Pfarrer Sai Baba kritisch beurteile. Doch wenn er den Pfarrer frage, ob er an die Wiederkunft Jesu Christi glaube, komme der ins Schleudern.
Für Fritz ist Sai Babas Lehre einfach: „Es gibt nur einen Gott, er ist allgegenwärtig. Es gibt nur eine Religion, die Religion der Liebe. Es gibt nur eine Sprache, die Sprache des Herzens. Es gibt nur eine Kaste oder Rasse, die Kaste oder Rasse der Menschheit. Und es gibt nur ein Gesetz, das Gesetz des Karmas“, zitiert Fritz sinngemäß die Kernlehre. „Dieses Gesetz hat auch Jesus gelebt.“
In der weiß getünchten Fabriketage nehmen die Männer wieder rechts und die Frauen links Platz. Die meisten hocken auf dem Boden, doch hinten gibt es auch Stühle. In der Ecke, auf die alle Blicke gerichtet sind, hängt über einem Altar mit Kerzen und frischen Blumen ein großes Poster von Sai Baba in weißem Gewand. Daneben zur Linken ein Marienbild, zur Rechten steht ein Sessel. Darin hängt schlaff ein orangerotes Gewand, wie es Sai Baba trägt.
„Wir sind eine Gemeinschaft ohne finanzielle Zwänge. Die Erziehung zu menschlichen Werten ist zentral: Liebe, Frieden, Gewaltlosigkeit, Rechtschaffenheit, göttliche Gesetze“, erläutert Helmut, ein Rechtsanwalt, Sai Babas Lehre aus seiner Sicht. „Wenn diese Werte gelebt werden, gibt es Herzensbildung.“ Eine Verbindung des kühlen Intellekts des Westens mit der Weisheit des Ostens, eben die Herzensbildung, könne den Menschen großen Fortschritt bringen. Das Singen heiliger Lieder erhebe ihn wie eine Lotosblüte aus dem Sumpf, sagt Helmut. „Sai Baba lehrt uns, dass wir das Göttliche in uns erkennen müssen.“ Die Entwicklung führe vom Eigen- über das Gemeinschafts- zum göttlichen Bewusstsein, bedeute Einheit von Gedanke, Wort und Tat.
Der Abend beginnt mit drei „Om“ und drei Mantras. Ein Mann liest aus dem Buch des Gurus, „Sai Baba für dich und mich“: „Ich bin eure Mutter und euer Vater. Ihr seid meine Kinder, einige von euch schlafen aber noch.“ Danach wird gebetet: „Geliebter Swami, damit wir die Glückseligkeit erfahren, die wir sind, lass uns in jeder Sekunde deine Führung erfahren, lass uns deine Werkzeuge sein.“ An diesem Tag ist ein hinduistischer Feiertag, und man singt nur Bhajans in indischen Sprachen, deren Übersetzungen im Gesangbuch stehen. Sonst werden auch christliche, jüdische oder muslimische Lieder angestimmt.
Die von Gitarre, Trommel und einem Harmonium begleiteten Lieder singt eine Person vor, dann folgt der fünfzigköpfige Chor: „Oh, Sathya Sai, du bist der liebende Ursprung aller Religionen, deine kosmische Form beinhaltet das ganze Universum.“ Etwa nach der Häfte jedes Lieds wird das Tempo erhöht, und es wird mitgeklatscht: „Sei gegrüßt, Sai, Mutter aller Wesen. Sieg sei dem göttlichen Guru! Jubelt ihm zu und singt und rezitiert beständig den lieblichen Namen des Herrn: Sathya Sai Baba, Rama Krishna, Shiva und Hari.“
Auf die Frage, wie er als aufgeklärter Europäer solche Lieder singen und überhaupt einen Guru um Führung bitten könne, sagt Helmut: „Führung ist gut, göttliche Führung sogar sehr gut. Führung ist wie eine Ausbildung, ein Lehrer.“ Es sei klug, sich gut führen zu lassen, man bitte doch auch Christus, einen zu führen. Als Beispiel der Weisheit seines Gurus kritisiert Helmut, der sich als ehemaliger Anhänger der Grünen outet, die Politik der grünen Verbraucherschutzministerin Renate Künast: „Sai Baba sagt, die ganze Agrarwende ist Lug und Trug. Denn die Tiere werden getäuscht, weil sie ja doch geschlachet werden sollen. Deshalb empfiehlt Sai Baba nur vegetarische Kost. Fleisch essen ist Sünde, Fisch ein Fehler, vegetarische Kost erhebt.“
In seinen Ashrams beeindruckt Sai Baba immer wieder mit so genannten Materialisationen, kleinen Wundertaten mit zum Beispiel heiliger Asche. Kritiker bezeichnen dies als billige Zaubertricks. Doch Ludmilla ficht das nicht an. Die 50-jährige Handelskauffrau russich-orthodoxen Glaubens ist von Sai Baba begeistert: „Jesus hat doch auch viele Wunder vollbracht, die niemand glauben wollte.“
Vergangenes Jahr wurde Sai Baba vorgeworfen, sich an jungen männlichen Anhängern sexuell vergriffen zu haben. Im Internet veröffentlichten ehemalige Anhänger entsprechende Beschuldigungen. Das führte dazu, dass in Indiens Presse über den wegen seiner großzügigen Spenden für Schulen und Krankenhäuser geachteten und aufgrund seiner politischen Verbindungen kaum angreifbaren Guru erstmals kritisch berichtet wurde. Doch die vorgeworfenen Delikte sind schwer zu beweisen, und Sai Baba schweigt. „Die Irritation unter den Anhängern ist gering gewesen“, meint Gabriele Göbel, Landeskoordinatorin der Sathya-Sai-Organisation Deutschland. Die Vorwürfe stammen von Menschen, „deren Erwartungen bezüglich persönlicher Zuwendungen nicht erfüllt oder deren Wünsche nicht in dem von ihnen erwarteten Maß berücksichtigt wurden“. Auch Abnabelungsprozesse spielten eine Rolle.
Dies wäre unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Vorwürfe ein Indiz für die psychische und mentale Abhängigkeit, vor der Sektenberater der Kirchen im Umgang mit Gurus warnen. Sicher bestehen solche Gefahren, deren Ausmaß stark von der Persönlichkeit des Anhängers abhängt. Gurus wie Sai Baba sprechen die in der Gesellschaft eben auch vorhandenen spirituellen Bedürfnisse an. Im Vorderhaus des Berliner Zentrums verkauft die Kneipe „Bierhimmel“ Spirituosen – im Hinterhof gibt es Sai Babas Spiritualität.
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