Dünne Haut gegen das Chaos

Mit einer bewegenden Ausstellung erinnert das Bauhaus-Archiv an die Künstlerin und Designerin Friedl Dicker-Brandeis. In Theresienstadt nahm sie die dort eingesperrten Kinder zum Zeichnen in ihre Obhut, 1944 wurde sie in Auschwitz ermordet

von KATRIN BETTINA MÜLLER

In der Bauhaus-Literatur tauchte sie bisher nur am Rande auf: Friedl Dicker, gelobt von Johannes Itten und Walter Gropius als begabte Schülerin. Jetzt erzählt eine biografisch angelegte Ausstellung im Bauhaus-Archiv erstmals von der Malerin, Gestalterin und Pädagogin, für die das Simon Wiesenthal Center, Los Angeles, die weit zerstreuten Zeugnisse zusammengetragen hat. Sie gehörte zur ersten Generation junger Kunststudentinnen, für die der Begriff „Gestaltung“ nicht nur Innendekoration, sondern auch soziale Utopien umfasste. Sie war als junge Unternehmerin in Berlin und Wien erfolgreich. Im Entwurf eines „Musterkindergartens für das proletarische Rote Wien“ 1930 verband sie ihr ästhetisches Anliegen mit politischem Engagement und dem Interesse für die Reformpädagogik. Nach einer Verhaftung als Kommunistin floh sie 1933 nach Prag und später vor der Verfolgung der Juden aufs Land nach Hronov. Ihre letzten Bilder, von Blumensträußen oft, entstanden zwischen 1942 und 1944 in Theresienstadt. Sie werden zusammen mit Skizzen des Lagerlebens ausgestellt, die Kinder dort in ihrer Werkstatt zeichneten.

Selten zieht einen die Kunst so tief in ein Leben und seine Bedrohung hinein. Von der „Ästhetik“ schrieb Friedl Dicker-Brandeis im Brief an eine Freundin einmal „als einer nur mehr sehr dünnen Haut gegen Chaos“. Man spürt, was sie mit dieser Haut fern halten will, selbst noch in ihren stillen Landschaften. Sie werden im Kontext ihrer Biografie, zu der ein umfangreicher Katalog viele Briefe beisteuert, zu Teilen eines Kampfes um Selbsterhaltung und Würde.

Ansteckend ist der Schwung, mit dem sie beginnt. Alles scheint möglich für die junge Künstlerin, die ihrem Lehrer Johannes Itten von Wien an das Bauhaus Weimar folgt. Sie kann mit breitem Kohlestift Rückenakte, Portraits und gestürzte Figuren auf das Papier werfen – immer das billigste Papier –, als hätte sie ein akademisches Aktstudium längst hinter sich gelassen. Die zerknitterte Kohlezeichnung einer schlafenden Katze, zusammengerollt über einem Kaffeefleck, hat eine Freundin aus dem Müll gerettet. Auf das Fertige legte Friedl Dicker wenig Wert, der Prozess war wichtiger.

Am Bauhaus entstand eine Skulptur aus Kugeln und Röhren, die in Schlemmers geometrischem Figurinen-Stil das Thema der „Anna Selbdritt“ umsetzte. Die Begeisterung über das fragile Chaos in der Welt Paul Klees findet in gestickten Wandbehängen ein Echo. Kostüm- und Bühnenbildentwürfe belegen ihre weitere Experimentierfreudigkeit. Mit 25 Jahren verließ Dicker das Bauhaus und gründete 1923 in Berlin mit dem Architekten Franz Singer die „Berliner Werkstätten für Kunsthandwerk“ und mit der Freundin Anni Wottitz ein Atelier in Wien. Stoffentwürfe, farbige Grundrisse für Wohnungen, deren Wände sich aufklappen lassen wie ein Karton, Modelle für schlanke Stahlrohrmöbel im Puppenhausformat, elegante Handtaschen mit Stahlkanten und Holzbaukästen, aus deren halbrunden Scheiben sich mit Steckverbindungen eine ganze Arche Noah bauen ließ, bezeugen die unglaubliche Produktivität der Zeit. Der konstruktive Ansatz gewinnt in diesen farbenfrohen Entwürfen eine spielerische Leichtigkeit, als ob das Leben selbst nicht viel wiegen würde. Ballast abwerfen, mit wenig auskommen: Das beinhaltete die Hoffnung auf Überwindung sozialer Ungleichheit.

Jahre später hat Friedl Dicker-Brandeis im Konzentrationslager Theresienstadt Klappbetten für Schlafsäle im Kinderheim entworfen und den beengten Raum mit gefärbten Bettlaken in individuelle Kojen und gemeinsame Räume gegliedert. Sie half damit, die Angst und die Demütigung etwas auf Abstand zu halten. So liest es sich in den Erinnerungen der Überlebenden, und man möchte es glauben.

Friedl Dicker war anfällig für Schuldgefühle, weiß ihre Biografin Elena Makarova. „Beständig habe ich das Gefühl, ich sollte was tun und versäume es“, schrieb Dicker. Sie trat in Wien in die Kommunistische Partei ein und entwarf sechs agitatorische Fotocollagen, randvoll mit hungernden Kindern und klagenden Müttern. In Prag begann sie mit Emigranten-Kindern zu arbeiten: Die Kunst wurde ihr wichtig als Mittel der Therapie, um Entwicklungsmöglichkeiten und Konzentrationsfähigkeiten da wiederherzustellen, wo die politische Verfolgung den Kindern alles genommen hatte.

Die Euphorie der konstruktiven Umbauphase der Welt ist ihr in den Dreißigerjahren abhanden gekommen. Trocken, spröde und karg sind die Bilder, in denen sie von der Situation der Verhaftung erzählt. Auf dem Gemälde „Fuchs lernt spanisch“ (1938) sieht man einen schreckensbleichen, jungen Mann, sein Lehrbuch ist ihm auf die Knie gesunken, hinter dem ein roter Fleck in der Form Spaniens von schwarzen Stürmen bedroht wird. „Sollte er sich sofort in den Krieg stürzen oder doch lieber warten, bis er etwas besser spanisch gelernt hatte?“, beschrieb ein Freund später diese gemalte Gewissensnot eines Intellektuellen.

Friedlicher, wenngleich melancholisch, sind ihre vielen Landschaftsbilder. Sie hat sie an Freunde verschenkt und manchmal getauscht. Josef Vavricka erhielt eine Stadtlandschaft gegen einen warmen Mantel, mit dem sie 1942 dem Aufruf zur Deportation folgen wollte. Er erinnert sich an ihren Humor. „Hitler lädt mich zum Rendezvous ein, haben Sie vielleicht etwas Warmes“, so bereitete sie sich vor.

Der kaum fassbare letzte Teil der Ausstellung stammt aus Theresienstadt. Charakterstudien von Unbekannten, flüchtige Stadtlandschaften, ausführliche Bühnen- und Kostümentwürfe, die in der Komposition noch einmal den ganzen Schwung des Anfangs aufnehmen . . ., so unglaublich viel Leben tanzt über die kleinen Zettel. Nichts weist in ihren Bildern auf die Not des Lagerlebens hin, wohl aber die Zeichnungen der Kinder in ihrer Obhut. Da tragen Strichmännchen mit Mondgesichtern Bahren in die Leichenkammer.

Bis 15. 10., Mi.–Mo. 10–17 Uhr, im Bauhaus-Archiv, Klingelhöferstr. 14. Der von Elena Makarova herausgegebene Katalog (240 Seiten) im Christian Brandstätter Verlag kostet 49,80 DM