: Ein trauriges Gefühl, das man tanzt
Einen Monat gastiert die Broadway-Tango-Show Tango Pasión mit dem „Sexteto Mayor“ im Thalia Theater und gibt Nachhilfe in Sachen Selbstreflexion ■ Von Knut Henkel
Als melancholisch, selbstmitleidig und hochnäsig, gelten die Argentinier in Lateinamerika. „Sie stammen von den Schiffen und träumen von Paris“, lautet ein geflügeltes Sprichwort. Eine Anspielung an die junge Geschichte einer Nation, die nahezu vollständig aus Einwanderern besteht. Auch José Libertella ist bekennender Migrant. Der 68-jährige Bandleader des Sexteto Mayor, das weltweit als bestes Tangoorchester gefeiert wird, wurde in Italien geboren und erreichte im zarten Alter von wenigen Monaten die Pier im Hafen von Buenos Aires. „Und die Migranten waren es, die den Tango schrieben und all ihre Sehnsucht, ihr Heimweh in diese Musik legten“, erklärt der Virtuose am Bandoneon, einer Art Ziehharmonika, die so alt ist wie Libertella selbst. 1933 wurde sein Instrument in Deutschland von Alfred Arnold gebaut. Dessen verblichene Initialen sind an der Seite des Instruments noch zu sehen.
Deutsche Seeleute waren es, die das Bandoneon nach Argentinien brachten. Dort, in den Hafenkaschemmen und Bordellen der Hauptstadt, wurde das Instrument Ende des 19. Jahrhunderts populär, und seitdem sind Bandoneon und Tango sind ineinander verwachsen. Für Libertella ist sein Bandoneon Teil seines Körpers und immer dabei, genauso wie der Tango, mit dem er aufgewachsen ist. „Wir, die Mitglieder des Sexteto Mayor, sind in eine riesiges Schwimmbad gefallen, das randvoll mit Tango war. Was blieb uns übrig als mitzuschwimmen?“, fragt Libertella mit einem Augenzwinkern. Mit neun Jahren hat er zu spielen angefangen, und seinen Enthusiasmus hat er sich bis heute bewahrt. Das Bandoneon ist sein Baby, das er wiegt, streichelt und das ab und zu einen Klaps erhält. Auf der Bühne ist der schwergewichtige Mann mit dem lichten Haupthaar in seinem Element. „Tango ist eine Reise in die eigene Geschichte, eine Entdeckungsfahrt in die eigene Gefühlswelt, nicht allein für mich, sondern oft auch fürs Publikum.“
Tango ist Libertellas Leidenschaft, sein Leben, und nicht erst seit der Gründung des Sexteto Mayor kämpfen er und sein Kumpel Luis Stazo für den Erhalt und die Weiterentwicklung ihrer Musik – und damit auch der argentinischen Identität. „Tango ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und ihrer Poesie. Er ist melancholisch, traurig, sehr emotional und ist Impuls, sich selbst zu reflektieren.“ Für ein Konzert in ihrer Heimatstadt nehmen sich die beiden schon mal einen Monat Zeit, um das Programm auszuwählen. Ein Stück des legendären Tangosängers Carlos Gardel, in dessen Haus das Sexteto Mayor 1973 gegründet wurde, ist immer dabei, und auch dem Erneuerer des Tango, Astor Piazzolla, erweist man den gebührenden Tribut.
Dem 1992 verstorbenen Tango-Idol haben Libertella und Co. auch ein Denkmal im Programm von Tango Pasión gesetzt. Zahlreiche seiner Nummern sind dort zu finden. Sechs Tanzpaare wirbeln dann zur Musik des Sexteto Mayor über das Parkett. Sie stellen sich in die Musik hinein, wie es Libertella formuliert, der allergisch reagiert, wenn man seine Band als Begleit-orchester bezeichnet. Schließlich hat er das Musikprogramm zusammengestellt und betrachtet das Ergebnis als Verschmelzung von Musik und Tanz.
Die Show, die von Broadway-Produzent Mel Howard initiiert wurde und seit acht Jahren rund um den Globus tourt, ist für Libertella „eine Vision von einhundert Jahren Tango“, die mit einer Serie von Piazolla-Stücken endet. Erst durch den Maestro erhielten die Tänzer mehr Freiheit, sich auszudrücken. Letztlich lieferte Piazolla, obgleich er seine Musik nie als Tanzmusik verstanden wissen wollte, die Basis für eine Gruppenshow wie Tango Pasión. Denn ursprünglich wurde Tango in Libertellas Heimatstadt von Solisten und Solistinnen getanzt. Die aber taugen nicht dazu, in Gruppen aufzutreten, sagt er, zu dessen grossen Idolen auch der Tango-Komponist Enrique Santos Dicépolo gehört. Der charakterisierte den Tango einmal treffend als ein „trauriges Gefühl, das man tanzt“.
bis 5. September, Di–Sa jeweils 20 Uhr, Sa auch 16 Uhr, So 15 und 19 Uhr, Thalia. Tickethotline 32 81 44 & 30 05 17 50
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