: Der Text endet leer
betr.: „Schöne deutsche Schuldgefühle“, taz.mag vom 11. 8. 01
Vielleicht liegt es daran, dass sich meine Großeltern nicht auf dem Reichsparteitag kennen lernten, vielleicht auch an der Tatsache, dass meine Großmutter weder Schützengräben ausheben musste noch aus Österreich stammt, aber ich verstehe einfach nicht, wo mich David Wagner mit seinem Text hinführen will.
Eigentlich verlief vieles parallel in unserer Biographie, mindestens vier Mal wurde das Dritte Reich in meiner Schullaufbahn an einem süddeutschen Gymnasium thematisiert. Die Religionslehrerin war in meinem Fall ein Lehrer, jedoch ebenfalls evangelisch, manchmal roch das Papier nach Lösungsmittel, Videodokumentationen von Auschwitz hinterließen Betroffenheit und, ja, auch Schuldgefühle. Nein, sterben wollte ich nie für diese Gefühle, auch musste ich nie auf dem Boden neben meinem Bett schlafen, um meine Scham zu bewältigen. [...] Wagner übersieht leider, dass die Bildung, die er da genossen hat, bei einem großen Teil seiner Generation zu antinationalem Denken und somit zu kritischem Denken und Fühlen im Bezug auf nationale und internationale Politik geführt hat. Meiner Meinung nach ein einmaliges Phänomen der Nachkriegserziehung, leider droht es zu verschwinden.
Zur Mitte des Textes hin werden Wagners Gedanken verwirrend, fast zynisch. Es gibt die Schuld von damals und viel Vergangenheitsform, Deutschland ist bombardiert worden, „ich dachte, wir haben es verdient“. Dann ist die Schuld weg, heute, jetzt. Durch was ist sie ersetzt worden? Die Auflösung, die Lehre sucht man vergeblich. Der Text endet leer, und wird damit gefährlich.
Wagner ist froh, dass er seine Schuld verloren hat, er ist froh, dass er jetzt endlich kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, „nur weil seine Großeltern auf der Seite waren, die ihnen und ihren Kindern das Überleben sicherte“. Dieses Kapitel scheinen meine Lehrer übergangen zu haben, aktiver Nationalsozialismus oder Tod, keine Alternativen?! In einem fragwürdigen Resümee wünscht er sich gar in den katholischen Religionsunterricht, weg von Wörtern wie Reichskristallnacht, Konzentrationslager, Judenvernichtung und bedient sich damit der umstrittenen Verdrängungsmethode eines Martin Walser. Auch der ominöse Herr mit weißem Hemd, Anzugweste und Halstuch sowie der Hinweis auf die sexuelle Freizügigkeit sowohl auf dem Kirchentag als auch auf dem Reichsparteitag in Nürnberg macht die „Auseinandersetzung mit schlechten Gefühlen“ nicht nachvollziehbarer.
Einen roten Faden gibt es jedoch in Wagners Text, den des Spotts gegenüber Frau Klingmann, seiner Religionslehrerin. Während Wagner glücklicherweise seine Schuld losgeworden ist, es „nicht mehr in ihm heult“, er den harten Boden gegen die Latexmatratze ausgetauscht hat (gegen was haben die Opfer der Konzentrationslager ihren Strohsack eingetauscht?), ist Frau Klingmann aktiv gewesen für die Aussöhnung, „hat im Kibbuz gearbeitet, einen israelisch-deutschen Erwachsenenaustausch organisiert und ihren Kindern jüdische Namen gegeben“. [...] Hat Wagner beim Verfassen dieser Zeilen ein ironisches Lächeln auf den Lippen? Wie heißen wohl seine Kinder?
Angesichts der heutigen Verhältnisse kann man sich nur wünschen, dass Herr Wagner seine Schuld bald wiederfindet. Trotz aller gewonnenen Freiheit scheint er sie manchmal ja geradewegs zu vermissen: „Oft kommt es mir so vor, als hätte ich eine große Aufgabe verloren.“ Damit liegt er meiner Ansicht nach gar nicht so falsch. Denke ich doch im Hinblick auf lauter werdende Vorwürfe der Generation meiner Großeltern und Tanten gegenüber „dem Engländer“, dass wir es verdient haben, dass Deutschland bombardiert wurde. Bei tagtäglichen Informationen in den Medien über rechtsgerichtete Verbrechen möchte man Wagner zurufen, seine Energie doch nicht mit literarischer Arbeit zu vergeuden, wie wär’s zum Beispiel mit aktiver Aussöhnung, von mir aus auch mit einer gehörigen Portion Schuld im Nacken. Sollte diese ihn zu sehr belasten, könnte vielleicht die Organisation eines israelisch-deutschen Erwachsenenaustausches einen kleinen Teil davon abtragen und ihm Linderung verschaffen. [...]
JAN RYBNIKER, Köln
[...] Man kann doch wohl von jemand, der sich Schriftsteller nennt, also die Öffentlichkeit mitbestimmt, gesellschaftspolitische Verantwortung übernimmt, erwarten, dass sein Verhältnis zur Geschichte seines Landes nicht einfach in einem stumpfen Ressentiment gegen Geschichtsbewusstsein besteht. Ja man kann doch wohl auch etwas intellektuelle Allgemeinbildung erwarten, zum Beispiel, dass die Strukturen, durch die der Faschismus möglich war, noch immer fortbestehen. Niemand will, dass Sie sich schuldig fühlen, und das Verhältnis zu unserer Vergangenheit auf Schuld zu reduzieren, ist so unreflektiert wie dumm. Denn worum es geht, ist, dass damals ein antisemitischer Diskurs eine ganze Gesellschaft verführen konnte, dass das Ungeheuerliche Normalität war. Und solche Manipulation der Öffentlichkeit kann auch wieder passieren und passiert auch jeden Tag. Denn bis heute ist diese Gesellschaft nicht in der Lage, ihre Fundamente in Frage zu stellen, ja sie überhaupt zu thematisieren. [...]
FRAUKE HEINRICH, Berlin
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