Ostjudentum tabu?

In Westeuropa fast unbekannt: Staatsbibliothek würdigt 75. Geburtstag des Wilnaer „Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts“  ■ Von Petra Schellen

Sie war geboren aus Notwendigkeit. Aus klarer Einsicht in ein Manko, das immer noch nicht beseitigt ist: die Institutionalisierung und Anerkennung der Wissenschaft vom Ostjudentum, die sich auf empirische Forschung gründet und nicht ausschließlich von – distanzierten – westeuropäischen Wissenschaftlern betrieben wird. Das YIVO, das Yidisher Visnshaftlekher Institut, gegründet 1925 in Wilna, hatte sich diesen Themen verschrieben. Einer Aufgabe, der sich die Beteiligten nur knapp 15 Jahre lang widmen konnten, bis 1940 die Rote Armee und 1941 die Nazis das Institut enteigneten bzw. liquidierten. Seither werden die Forschungen in der ehemaligen New Yorker Dependance fortgesetzt, das seit 1945 die meisten Dokumente beherbergt.

Etliche Archivalien lagern allerdings seit 1989 in der Judaica-Abteilung des Bibliographischen Instituts in Wilna – Bestände, aus denen sich auch die aktuelle Ausstellung in der Hamburger Staatsbibliothek speist, die des 75. Bestehens des YIVO gedenkt. Wenig bekannt ist in Westeuropa das Institut samt Gründungsgeschichte: Von dem Sprachwissenschaftler Nukhem Shtif (1879-1933) stammt die Vision eines Instituts, das die Historie der jiddischen Kultur in Ost- und Mitteleuropa wissenschaftlich erforschen sollte.

An jüdische Organisationen sowie das Wilnaer Zentrale Jüdische Bildungskomitee und die Wilnaer Jüdische Bildungsgesellschaft schickte Shtif seine Entwurfsskizze, die großes Interesse fand; die Institutsgründung wurde im April 1925 auf dem Zweiten Jüdischen Schulkongress der Polnischen Republik beschlossen. Eine Ergänzung zur 1919 in Berlin gegründeten Akademie für die Wissenschaft des Judentums sollte das YIVO bilden. Erkärtes Ziel war außerdem, Wissenschaftler heranzuziehen, die Jiddisch sprachen und mit jüdischer Geschichte vertraut waren.

Wenig später nahmen die Beschlüsse Form an: In vier Sektionen – die philologisch-ethnographische, die historische, die ökonomisch-statistische und die psychologisch-pädagogische – wurde das Institut unterteilt. Verschiedenste Schulen präsentierten dabei die Publikationen, die das YIVO schnell edierte, darunter die Monatsschrift YIVO-Bleter, die von 1931 bis 1939 in Wilna erschien. Breiter Raum wurde der empirischen Forschung eingeräumt, die z. B. regional abweichende Ortsnamen und Dialekte des Jiddischen abfragte – Grundlage für eine geplante Vereinheitlichung der jiddischen Schriftsprache. Auch die soziale Situation jüdischer Familien in Mittel- und Osteuropa interessierte die Wissenschaftler.

Finanziert wurde die Arbeit des Instituts von internationalen Gesellschaften der Freunde und Förderer desYIVO, vertreten durch ein Ehrenkuratorium, dem Albert Einstein und Siegmund Freud angehörten. Auch das 1935 von Marc Chagall angeregte Kunstmuseum wurde noch im selben Jahr gegründet; ebenso das Theatermuseum, dessen Bestände sich aus der Sammlung der SchauspielerInnen Esther Rokhl Kaminska und Zygmunt Turkow sowie der Warschauer Jüdischen Schauspielervereinigung speisten.

Ein breites Spektrum jiddischer Kultur erforschte das YIVO; für die Effektivität und Wissenschaftlichkeit der Arbeit spricht auch die Tatsache, dass das Pressearchiv des YIVO schon nach wenigen Jahren über 4000 Jahrgänge jüdischer Zeitungen in allen Sprachen zusammengetragen hatte und dass die Bibliothek zum Ende der Wilnaer Zeit 40.000 Bände besaß.

Hauptsitz des Institut war zwar anfangs Berlin, ab 1935 aber, wie ursprünglich geplant, Wilna. Die zentrale Bibliothek und das Archiv residierten allerdings von Anfang an in Wilna; Dependancen existierten in Paris, New York und Buenos Aires. Doch die in Organisationsform und Themensetzung einzigartige Institutsarbeit währte nicht lange: Während der zehnte YIVO-Geburtstag noch mit einer Konferenz und dem Einzug in ein neues Wilnaer Gebäude gefeiert wurde, ging der 15. fast unter: Nach der Besetzung Wilnas durch die Rote Armee am 15. Juni 1940 wurden sämtliche jüdische Bibliotheken Wilnas geschlossen und enteignet. Unmittelbar nach der deutschen Besetzung Wilnas am 24. Juni 1941 begann dann die systematische Konfiszierung auch der YIVO-Bibliotheksbestände. Ziel war, die wertvollsten Dokumente dem Alfred Rosenbergschen Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt/M. einzuverleiben. Ausführendes Organ: der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“. Und obwohl die zwangsverpflichteten jüdischen Wilnaer Bibliothekare rund zehntausend Dokumente ins Wilnaer Ghetto schmuggeln konnten, fiel der größere Teil den Nazis in die Hände. Nach dem Krieg dann den Amerikanern, die die Dokumente 1947/48 der New Yorker Dependance des YIVO weitergaben, seit 1945 Zentrale des YIVO.

Notwendig, an all dies zu erinnern. Wichtig auch, Details zu studieren und den blitzschnellen Aufbau einer Institution zu würdigen, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der kulturellen Identität der osteuropäischen Juden leistete. Und wichtig, sich zu informieren über ein Institut, das in einer 1992er Darmstädter Bestandsaufnahme der Geschichte der modernen judaistischen Wissenschaften und ihrer Institutionen nicht erwähnt wird; überhaupt findet die Wissenschaft des Ostjudentums keinen Platz in dem Kompendium. Zufall? Relikt einer immer noch existierenden qualitativen Unterteilung? Fragen, die auch das Begleitheft zur Ausstellung, die zuvor in Tübingen gezeigt wurde, stellt. Und die dringend nötige weitere kritische Publikationen irgendwann beantworten werden.

Bis 18. August in der Staatsbibliothek; Katalogheft 2 Mark