Blut, das in die Erde sickert

Orte für ein blaues Wunder (VIII): Auf dem Friedhof von Glasnevin wurde gern gestohlen – frische Leichen

Möchte man das erleben?

„Auf dem Friedhof von Glasnevin wird die Geschichte zum Leben erweckt“, heißt es im Informationsblatt, das einem am Eingang ausgehändigt wird. Der Friedhof – offiziell heißt er Prospect Cemetery – ist Dublins Antwort auf Père Lachaise in Paris. Mehr als 1,2 Millionen Menschen sind hier im Norden der irischen Hauptstadt begraben. Die Reichen und die Armen, die Berühmten und die Namenlosen. „Müssen ja so zwanzig bis dreißig Beerdigungen sein jeden Tag“, staunte Leopold Bloom im „Ulysses“ von James Joyce.

Was soll man auf einem Friedhof, wenn man noch lebt?

Eine Führung ist ein Schnellkurs in irischer Geschichte. Der Friedhof wurde vor knapp 170 Jahren eingeweiht. Daniel O’Connell, ein katholischer Anwalt, der für die Gleichberechtigung der Katholiken kämpfte, hatte die Eröffnung des Friedhofes durchgesetzt. Damals wurde Katholiken nämlich nicht nur das Wahlrecht vorenthalten, sondern ihnen durfte auch kein ordentliches Begräbnis zuteil werden. Der Glasnevin-Friedhof ist jedoch nicht nur für Katholiken, sondern er steht allen Konfessionen und Nationalitäten zur Verfügung. O’Connells Grabmonument, die Nachbildung eines historischen Rundturms, ist das Wahrzeichen des Friedhofs. Der „Befreier“, wie er genannt wird, lehnte Gewaltanwendung zur Durchsetzung seiner Ziele ab. Roger Casement und Eamon De Valera, die am Rand des O’Connell-Monuments beerdigt sind, setzten dagegen auf Waffen, um Irlands Unabhängigkeit durchzusetzen. Dieser ältere Teil des Friedhofes ist mit einer vier Meter hohen Mauer und Wachtürmen gesichert.

Was gibt es auf einem Friedhof denn zu klauen?

Frische Leichen. Die brachten Anfang des 19. Jahrhunderts eine Menge Geld ein, denn Mediziner benötigten für ihre anatomischen Untersuchungen ständig Nachschub. Manchmal mischten sich die Leichenräuber unter die Trauergäste und ließen eine Flasche Whiskey kreisen, in die sie ein Betäubungsmittel gegeben hatten. Wenn die Gemeinde bewusstlos zu Boden sank, machten sie sich mit dem Toten davon. Um an den Wachtposten vorbeizukommen, hakten sie die Leiche unter und taten so, als sei es ein Betrunkener.

Apropos betrunken: Wieso steht auf Brendan Behans Grab manchmal eine leere Whiskeyflasche?

Zu viele Gelage haben den Schriftsteller 1964 ins Grab gebracht. Er liegt am Südende des Friedhofs, wo früher die Armen begraben wurden. An diesem Ende, gleich neben Kavanaghs Kneipe, die im Volksmund „Gravediggers“ heißt, lag damals der Haupteingang. Weil der Eigentümer der Zufahrtsstraße jedoch Gebühren erhob, baute man eine neue Straße parallel dazu und verlegte den Haupteingang. Diese neue Straße teilt den Friedhof in zwei Teile. Der neuere Teil mit einem Denkmal für IRA-Mitglieder liegt hinter einer Wohnsiedlung. Diese Siedlung steht auf „Sluts’ End“, dem „Schlampenacker“, wo die Prostituierten begraben wurden. Der neue Friedhofsteil sieht ordentlich aus, die Gräber sind in Reih und Glied angelegt, während die Toten im alten Teil, so scheint es, willkürlich begraben wurden. Die keltischen Kreuze sind längst von Efeu umrankt, die griechischen Säulen moosbewachsen, viele Grabplatten sind zerbrochen.

Stoff für Gruselfilme. Der Dracula-Erfinder Bram Stoker war doch auch Dubliner?

Ja, aber diese Toten auf dem Friedhof von Glasnevin werden nicht mehr lebendig, wie es das Informationsblatt ominös andeutet. Doch sie sind Lebensspender, so stellte James Joyce in seinem „Ulysses“ fest: „Der Botanische Garten ist gleich da drüben. Es ist das Blut, das in die Erde sickert, das gibt neues Leben.“

RALF SOTSCHECK