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Erratische Rhythmen

Stricken an Strukturen, bis der Song fast zusammenbricht, und revitalisieren ihn dann mit Geschwindigkeit: Heute befassen sich Locust mit den Altlasten des Grindcore

Es gab einen Punkt in der Geschichte des Grindcore – an sich schon ein marginaler Ort in der Geschichte der Gitarrenmusik –, da wurde das Pathologische dieses matschigen Riffings mit seinen lyrischen Collagen aus Medizinwörterbuch-Fundstücken und Kriegsberichterstattungen aus der Serial-Killer-Folklore selbst abgestumpftesten Sammlern von Naziverbrecherbildern zu langweilig.

Zu diesem Zeitpunkt entwickelte in Boston eine Band mit dem lyrischen Namen Anal Cunt, später aus Gründen der Diskretion kurz in A. C. umbenannt, erstmals weniger verbindliche, dafür umso abseitigere Fantasien, versteckt hinter pubertär politisch unkorrekten Verbalschockattacken, die auf Konzerten schon mal in physische Belagerungssituationen ausarteten, und ironischen Freejazz-Entgleitungen. Mit A. C. legte der Grindcore nach nihilistischen Rückzugsgefechten ins Spirituell-Morbide seine Körperfeindlichkeit ab, und diesen neuen Körper zeichnete eine behende Vitalität aus. Im Neudeutsch heißt das heute wohl: Es rockte endlich wieder. Die Sympathien der Pop-Avantgarden für das asynchrone Geprügel des Grindcore, seine streng antiformalistischen Grundmuster und die erratisch verschachtelten Rhythmen haben in den letzten Jahren eine neue Nebenlinie der inzwischen verkümmerten Hauptwurzel zum Blühen gebracht. Die grindcoretypische Muffigkeit ist von Bands wie Dillinger Escape Plan, Disordance Axis oder Burnt by the Sun abgelegt worden zugunsten eines ausufernden Spielwitzes.

Die kalifornische Band The Locust ist der derzeit versierteste Abkömmling im Umgang mit allzu muckermäßigen Altlasten, die man sich noch vom Progressive Rock entliehen hat. Das heißt: Locust, wie auch die anderen oben genannten Bands, stricken an den Strukturen, bis ein Song vor Information und Komplexität in sich zusammenzubrechen droht. Dann aber revitalisieren sie plötzlich wieder das an Verkopfung zu ersticken drohende Studienobjekt mit elektrifizierenden Gitarrenbeschleunigungen. Die Intensität dieses Mathcore grenzt fast an ein Wunder. Bei extremen Geschwindigkeiten schütteln die Musiker die Stop-and-go-Breaks locker aus dem Ärmel wie anno dazumal schon Meister Zorn mit seinem Hochpräzisions-Grindjazz-Projekt Naked City.

Ein Lehrstück in Sachen „Virtuosität“ und „Mosh“. Locust gingen konzeptionell aber noch weiter. Für eine Remix-EP engagierten sie nichtartverwandte Künstler wie den kalifornischen Laptop-Jockey Kid 606 und Christoph de Babalon, den Betreiber des Berliner Break-/Hardcore-Labels Cross Fade Enter Tainment. Diese elektronischen Aufarbeitungen gaben der Band eine völlig neue Richtung vor.

Heute sind Locust so etwas wie die Man or Astroman des Grindcore: Ihr Line-up gleicht dem einer New-Wave-Band, ihre Kostümierung ist liebevoll, aber nicht albern, ihre Bühne steht regelmäßig in Flammen, brennt aber nicht nieder, und die Elektronik fräst wie ein Zahnarztbohrer. Ohne größere Imageverrenkungen haben Locust es geschafft, in Emocore-Kreisen als durchgeknallte Exoten ihre Meriten einzufahren, was ihnen auch vor At-The-Drive-In-Publikum schon Erfolg beschert hat. Und wenn man sich derzeit in den einschlägigen Webforen so umhört, ist anscheinend jedes ihrer Konzerte ein „Konzert des Jahres“. ANDERAS BUSCHE

Locust mit Oath und DJ Christoph de Babalon im Kato im Schlesischen Tor, Kreuzberg, heute ab 21 Uhr

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