piwik no script img

In einer Seitenstraße

DAS SCHLAGLOCH von VIOLA ROGGENKAMP

Ich hasse dieKlimaanlagen inFlugzeugen, undich verabscheuedas Essen an Bord

Ohne fremde hilfe manchmal ich spüren einen sollten kommen und mir was schreiben auf den leeren blatt weil ich nicht selber es können aber es kommen keinen der das an meiner statt tun tät das du schon selber machen müssen sagen in mir ein stimmen und ich fallen auf bett hin oder ich sitzen vor schreibmaschin und lassen meinen fingern bißchen klappern. Ernst Jandl

Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken könnte, daß ein anderer denken könnte. Karl Kraus

Weiß ich überhaupt nicht mehr weiter, sehe ich bei Kurt Tucholsky nach: „Wenn einer vom Urlaub zurückkommt“, schrieb er 1931, (auch ich komme gerade aus dem Urlaub zurück), „dann ist er noch gar nicht da, wenn er da schon da ist.“ Und muss doch schreiben und soll vorher noch denken können. Die Hitze ist groß. 44 Grad auf meiner Dachterrasse in der Sonne, 38 Grad im Schatten in der Wohnung. Sämtliche Notizen, die ich mir für eventuelle Schlaglöcher gemacht habe, zerschmelzen unter meinen Augen zu unleserlichen Papierfetzen.

Über die Hitze schreiben? Für die Zeitung übers Wetter zu schreiben geht nie gut. Man feilt an schönsten Formulierungen über wochenlangen Dauerregen und anderntags strahlt die Sonne. Am Montag ein Schlagloch über die Hitze zu schreiben, wäre die sicherste Garantie für einen frühherbstlichen Kälteeinbruch am Mittwoch, und ich wäre schuld.

Was habe ich denn in jüngster Zeit erlebt? Ich bin in diesen heißen Tagen mit dem Zug nach Florenz gefahren, um eine Freundin zu besuchen, die dort seit kurzem lebt. Sie ist aus Leipzig, aber das ist nicht wichtig. Ich schreibe es nur hier hin, um kundzutun, dass sie keine Italienerin ist. Das ist wichtig. So wichtig ist es eigentlich auch nicht. Im Zug war es jedenfalls sehr heiß.

Ich bin nicht geflogen. Ich fliege nur noch, wenn es überhaupt nicht zu vermeiden ist. Ich hasse die Klimaanlagen in Flugzeugen, und ich verabscheue das Essen an Bord in der Luft. Im Zug esse ich meine eigenen Käsebrote. Hat eigentlich schon mal jemand in Lufthansa Businessclass seine Wurststullen von zu Hause ausgepackt?

Ich muss auch nicht in drei Stunden nach Florenz geflogen werden, baktierenverseucht und mit verdorbenem Magen. Je älter ich werde, desto mehr Zeit habe ich. Auch nach acht bis zehn Stunden Reisezeit im Zug ist Florenz, wie Florenz eben ist, eine wunderschöne Stadt, sogar dann, wenn im Zentrum aus jeder Straße Touristenströme herausdrängen wie aus einer zu engen Wurstpelle. Eine italienische Handelsstadt von gediegener Wohlhabenheit. Nicht in allen Stadtteilen, aber in einigen. Vera aus Leipzig erwartete mich am Bahnhof in Florenz.

Ich freue mich immer, wenn ich Vera sehe, aber diesmal war ich im Zustand des Zerschmelzens und sozusagen hingegossen schon auf dem Bahnsteig. „Vera“, hauchte ich mit heißem Atem, und sie küsste mir zur Begrüßung den Schweiß von der Stirn und sagte „buon giorno, bella“, wobei ich bemerkte, dass ihr sanftes Sächsisch dem italienisch Melodiösen mehr entgegenkam als im Wege stand.

Wir brachten meinen Koffer ins Hotel, eine kleine Pension in der Nähe der schönen Synagoge. Anderntags, am frühen Abend, holte Vera mich ab. Bei lauem Wind machten wir einen Spaziergang durch den gutbürgerlichen Stadtteil, in dem sie ein Zimmer zur Untermiete gefunden hatte. Wir schlenderten an kleinen Geschäften vorbei, an Espresso-Bars, und bogen dann in eine ruhige Seitenstraße mit vierstöckigen Wohnhäusern, gebaut aus soliden grauen Quadern, darin eingelassen schwere Eingangstüren, geschnitzt aus dunklem Holz.

Im Gespräch mit Vera und dabei auf dem schmalen Bürgersteig auf unsere Schritte achtend, sehe ich in noch einiger Entfernung eine alte Frau uns entgegenkommen und dann vor einem dieser Hauseingänge stehen bleiben. Der Tür wendet sie sich halbwegs zu, kehrt sich aber von uns dadurch nicht völlig ab, wodurch sie mir im Blickfeld bleibt. Ich sehe sie, ohne sie wirklich zu beobachten. Ganz im Gegensatz zu ihr, die sie uns genau beobachtet, ohne dass wir es schon wissen oder vermuten können.

Offenbar wohnt die alte Frau hier. Jedenfalls drückt ihre Körperhaltung dies aus. Das denke ich nicht einmal mit Wörtern, sondern nur in einer inneren amorphen Darstellungsweise, nach der Gesehenes intuitiv und gleichwohl erfahrungsgemäß zugeordnet wird – um auf einer äußeren Daseinsebene weitermachen zu können, denn ich sprach ja mit Vera, und zwar über ihre Zukunft in Florenz. Wie lange sie sich würde leisten können, hier zu leben, um ein Buch über sich und die DDR zu schreiben.

Die alte Frau ist im Begriff, ins Haus zu gehen, so scheint es. Sie sieht gepflegt gekleidet aus, sie trägt gute Schuhe, was in Italien keine Kunst ist, aber man muss sie sich leisten können. Ihr Haar ist noch schwarz oder schwarz gefärbt und auf jeden Fall frisch frisiert. Mit ihrer rechten Hand stützt sie sich auf einen Stock, mit der linken scheint sie in ihrer Handtasche, die ihr über dem rechten Arm hängt, nach etwas zu suchen, sehr wahrscheinlich nach ihrem Haustürschlüssel.

So denke ich beiläufig über diese alte Frau, die meine Freundin und ich gleich erreicht haben werden, um ohne Aufenthalt und lediglich mit einem kleinen Bogen zur Seite vielleicht an ihr vorüber und weiter zu gehen.

Sämtliche Notizen, die ich gemacht habe, zerschmelzen unter meinen Augen zu unleserlichen Papierfetzen

Als wir ihr auf nur noch zwei Schritte nahe sind, wendet sie sich vom Haus ab und uns zu. Wir hören auf, miteinander zu sprechen. Mitten im Satz. Mitten in welchem Satz, daran werden wir uns hinterher nicht mehr erinnern können. Die alte Frau zieht ihre linke Hand aus der Handtasche und hält sie uns hin, mir näher als Vera. Das hat etwas überraschend Intimes, und ich beuge mich über diese fremde Hand, als würde mein Kopf zu ihr heruntergezogen. Um was zu finden? Um was zu erkennen?

Ich sehe in diese Hand, die faltig ist und leer, und neben der das sorgfältig zurechtgemachte Gesicht der alten Frau schräg zur Seite gelegt gleichsam zu schweben scheint, dabei verzieht sie ihren Mund zu einem Ausdruck schmerzhafter Süße. Sie murmelt etwas Unverständliches. Sie bittet uns um Geld. In diesen Schuhen, mit dieser Frisur und dem zarten Puder auf ihren runzeligen Wangen.

Unfähig ihrem Wunsch entsprechend zu reagieren, gehen wir an ihr vorbei und sind beide erschrocken über die Routine, mit der sie diesen kleinen Überfall auf uns durchgeführt hat. Dass sie uns um Geld bittet, beschäftigt uns weniger als die Professionalität, mit der diese in die Jahre gekommene adrette Mutter uns zwei Frauen schon aus der Entfernung als Fremde erkannt hat und mit dem maskenhaften Ausdruck aufgelegten Elends anbettelt. Sie ist dabei völlig frei von Scham. Wie sie es mal eben machen kann, hat sie uns sehen lassen. Vor allem das erschreckt uns, die wir ihre Töchter sein könnten.

Die zwei Schritte, die wir zu gehen hatten, um uns an ihr vorbei zu bringen, erinnere ich mich nicht mehr. Ich erinnere, dass wir uns nicht umdrehten, als hätten wir Furcht. Wir suchten uns zusammen. Was hast du eben gesagt, fragte ich Vera? Ich weiß es nicht mehr, sagte sie.

Fotohinweis: Viola Roggenkamp lebt als freie Publizistin in Hamburg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen