: Wer profitiert von Deregulierung?
betr.: „Dezent unsozial“, taz vom 1./2. 9. 01
Die Niederländer werden oft von Kritikern als Beispiel herangezogen, um „endlich mal zu zeigen, wie man es besser machen kann“. Doch hier irrt der Autor. Bauland und Wohnraum in Amsterdam sind knapp, Wohnungsvergabe und Mietpreise streng reguliert nach Einkommensklasse und Wartezeit. So kann man auch in der Innenstadt eine bezahlbare Wohnung finden, vorausgesetzt man schafft es irgendwie, die vier Jahre Wartezeit zu überbrücken!
Die bestehenden Regelungen bedienen eindeutig die Alteingesessenen (und damit das kommunale Wahlvolk) und machen es „flexiblen Arbeitnehmern“ äußerst schwer: Beim Makler kostet eine Zweizimmerwohnung ab 2.000 Mark, der einzige Ausweg ist der etwas günstigere „zweite Wohnungsmarkt“: illegale Untervermietung von Genossenschaftswohnungen zum dreifachen Preis. Dies beschert dem plötzlich zum Vermieter Aufgestiegenen ein komfortables Zusatzeinkommen von runden 1.000 Mark, ohne Mietvertrag oder Kündigungsfrist für Leute wie mich. Eine bessere Kontrolle der vergebenen Wohnungen in Amsterdam würde vermutlich einiges richten können. Aber man legt sich doch nicht mit Wählern an. ERICH KUTSCHINSKI, Amsterdam
Jetzt werden wir schon auf der ersten Seite der taz informiert, dass strengere Preisgrenzen für Mieten dazu führen, dass noch weniger Wohlhabende Lust hätten, ihr Vermögen in neue Wohnungen zu investieren, und dass Witwe Schulte und junge Paare vom „freien“ Markt profitieren! Das FDP-Programm in der taz!
Die Argumentationslogik ist mir unzugänglich: 1. Warum würde Witwe Schulte eher umziehen und Platz machen für junge Paare im „freien“ Markt? Unregulierte Mieterhöhungen würden den Mietspiegel und damit die Preise für Neuvermietungen in die Höhe treiben, und Witwe Schulte würde bleiben oder schnell ins Obdachlosenwohnheim übersiedeln.
2. Makler profitieren von Deregulierung. Die Tatsache, dass der regulierte Waffenhandel die Preise für Killer in die Höhe treibt, ist kein Argument gegen eine Regulierung.
3. Innenstädtischer Wohnraum ist immer ein rares Gut und kann nicht dem „freien“ Markt überlassen werden. Viel mehr Wohnungen sollten gemeinschaftlich verteilt werden, wie in Amsterdam, ohne dass dort das Stadtbild von der Diktatur des Proletariats zerfressen wird. Ein schönes Gegenbeispiel ist Paris, wo „freie“ Mietpreise zu einer ethnischen Reinigung der Stadt von normal verdienenden Familien geführt haben, die in die Nordost-Vororte verdrängt wurden, dort kommunistisch wählen und auf dem Weg zur Arbeit täglich drei Stunden im Auto oder in der S-Bahn sitzen. Gleichzeitig lassen reiche Pariser Unmengen von Wohnungen leer stehen, weil sie die popligen Mieten von ein paar tausend Franc pro Einzimmerwohnung gar nicht brauchen.
4. Reiche investieren in Wohnungsbau, wenn es sich lohnt. Bei den jetzigen Mieten lohnt es sich schon genug. Falls nicht genug bezahlbare Wohnungen gebaut werden, muss der Staat mit gezielten Anreizen intervenieren. Sozialer Wohnungsbau und strenge Mietpreisregulierung sind essenzielle Bestandteile des modernen (auch ökologischen!) Urbanismus. KIM GERDES, Paris
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