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Gravitation außer Kraft

Demontage und Neuerschaffung der Logik: Der Autor und diesjährige Hubert Fichte-Preisträger Peer Hultberg ist konsequent  ■ Von Petra Schellen

Peer Hultberg ist einer, der nie ankommt. Der so tut, als ob er Mosaik spielte und einfach schöne, asymmetrische Muster schaffen wollte, die nichts weiter bedeuten. Und erklären mag er grundsätzlich nicht, was in seinen Texten wirklich vorgeht und wie er sie montiert.

Braucht er auch nicht, schließlich muss der 1935 in Kopenhagen geborene, seit 1986 in Hamburg lebende Autor, der am 18. Juli dieses Jahres den renommierten Hamburger Hubert Fichte-Preis bekam, seiner Leserschaft ja nicht alles vorkauen. Und der Psychoanalytiker, Übersetzer und Polonistik-Dozent Hultberg, der Romane, Erzählungen und Theaterstücke schrieb und heute im Literaturhaus liest, macht es seiner Leserschaft nicht leicht: Aus 537 „Stimmen“ besteht sein Roman Requiem (1985), aus 100 Lebensläufen Die Stadt und die Welt (1992).

100 Geschichten aus der jütländischen Stadt Viborg, von der aus die älteste Landstraße Dänemarks nach Schleswig führt, hat er für seinen jüngsten Roman zusammengestellt. Der Schauplatz: eine kleine Stadt, die ursprünglich heidnische Kultstätte war und im Mittelalter bedeutender Handelsplatz. Ein breites Spektrum an Einzelgeschichten von Menschen, deren Wege sich nur gelegentlich kreuzen und deren Biographien auf sechs bis sieben Seiten passen, bietet Hultberg hier. Das Timbre: kühl, lakonisch, teils ironisch. Angemessen distanziert also, wie es scheint.

Doch dann nimmt die Argumentation subtile Wendungen: Da ist das gerade noch gelobte Kindermädchen plötzlich fürchterlich; man hat es immer gewusst. Oder die Mutter versucht die Rückkehr des einst gehätschelten „Verräter“-Sohns zu verhindern und behauptet im Nachhinein, sie habe dessen Illoyalität schon immer gespürt. Zügig umgedeutet und re-interpretiert wird hier – je nach Gusto – jede Beobachtung, die Frage nach Integrität stellt sich für keinen der Beteiligten. Alles fließt.

Was ist also Wahrheit, fragt man sich hier, existiert universelle Logik überhaupt, wenn doch ständig neue Kausalketten möglich sind? Sind die hinter den harmlosen Geschichten durchscheinenden Vorurteile – gegen Ausländer, Trotzkisten, Leute aus Fünen, Neureiche, das adoptierte Kind, Juden, Andersartige – schon so perfekt zum Naturgesetz umgedeutet, dass der Sprecher nichts mehr merkt? Oder gleichen die konservierten Aversionen einem Virus, das sich zwar zwecks Vermehrung im Körper ständig in neue Gewänder (z. B. Eiweißmolekül-Hüllen) kleidet, aber letztlich immer dieselbe Botschaft transportiert bzw. sich selbst reproduziert?

Peer Hultberg lässt es offen, spürt in seinen Texten detailliert der Demontage der Logik in den Gedankengängen der Figuren nach, denen keine Weiterentwicklung gelingt: Der autoritäre Vater zeugt einen autoritären Sohn, die Pastorin wiederholt Fehler, die an ihr begangen wurden. Wie Spiralen winden sich die Figuren um ihre eigenen Verhaltensmuster, suchen immer nur sekundenlang nach Wahrheit, die dann auch nur flüchtig gilt.

Ein nicht sonderlich sympathisches Bild der – nur im Detail spezifisch dänischen – Gesellschaft zeichnet Hultberg hier. Eins, das die Frage nach Zufall und Notwendigkeit stellt. Und nach self-fulfilling prophecy, wenn etwa ein adoptiertes Kind an den Vorurteilen der Gemeinschaft scheitert, die später behauptet, genauso habe es schicksalhaft kommen müssen.

Wie kalte Sterne, denen das zu umkreisende Zentralgestirn verloren ging, wirken die Menschen, die ohne Gravitation bzw. dauerhafte Bindung orientierungslos durchs All fliegen. Andere gleichen Satelliten, die mal hier, mal da andocken, ohne zu begreifen, dass sie selbst Veränderung und Fortschritt schaffen müssen.

Was bleibt? Vielleicht ein paar Überlegungen über die für Die Stadt und die Welt nicht zufällig gewählte Dezimalzahl Hundert, die, brav in Zehnerschritte einteilbar, eine glatte Deutbarkeit der Welt suggeriert, die bei Hultber schroff zersplittert: So leicht auflösbar ist die Welt dort nicht, so schlicht nicht auf Vorurteile zu reduzieren, wie es seine Protagonisten tun. Dabei hätten die doch so gern, dass die Erde eine perfekt vermess- und kontrollierbare Kugel wäre. Ist aber nur eine Ellipse geworden.

Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus

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