: Volle Kontrolle nur im Netz
Schnell ist es passiert: Eigentlich wollte man nur ein wenig im Internet surfen, doch plötzlich sind aus dreißig Minuten ein paar Stunden geworden. Ist das noch genussvolle Hingabe oder schon bedenkliches Anzeichen einer drohenden Onlinesucht? Martin Zobel, Suchtforscher aus Koblenz, über erste Symptome und letzte Hilfsmaßnahmen bei einer bisweilen sehr kommunikativen Form von Abhängigkeit
von JUTTA HEESS
Martin Zobel ist Diplompsychologe und arbeitet als Psychotherapeut in Koblenz und im Rheinischen Institut für Angewandte Suchtforschung (RIAS).
taz: Einer aktuellen Studie der Stanford University zufolge sind Menschen, die mehr als neunzig Minuten am Tag im Internet verbringen, onlinesuchtgefährdet. Anderthalb Stunden im Netz – das schaffe ich auch oft. Bin ich schon abhängig?
Martin Zobel: Neunzig Minuten finde ich ziemlich niedrig. Eine Forschungsgruppe der Berliner Humboldt-Universität hat herausgefunden, dass Internetsüchtige pro Woche durchschnittlich etwa 35 Stunden online sind, also jeden Tag rund fünf Stunden. Bei rund vier Stunden täglich ist der User suchtgefährdet. Aber Leute, die beruflich mit dem Internet zu tun haben oder gezielte Recherchen machen, sind natürlich nicht onlinesüchtig.
Die im Netz verbrachte Zeit allein ist also noch kein Indikator für Onlinesucht?
Nein. Es ist sicher erst dann problematisch, wenn jemand den Großteil seiner Freizeit im Internet verbringt. Wenn die Onlinebeschäftigung einen zentralen Platz im Leben des Betroffenen eingenommen hat. Wenn es für einen Menschen „normal“ geworden ist, jeden Tag ins Internet zu gehen, dort fünf, sechs Stunden oder mehr zu verbringen und wenn er ohne Internet nervös und unruhig ist – dann kann man von Onlinesucht sprechen.
Gibt es weitere Suchtkriterien?
Onlinesüchtige erfahren eine starke Einengung der Interessen. Für den Betroffenen zählen fast nur noch die Erlebnisse im Internet, andere Interessen gehen mehr und mehr verloren. Außerdem kommt es zu einer Toleranzentwicklung, das heißt, die Zeit, die im Web verbracht wird, steigt kontinuierlich an. Zusätzlich tritt eine Zeitverzerrung ein. Der Betroffene denkt, er sei erst seit einer halben Stunde online – dabei sind in Wirklichkeit schon mehrere Stunden vergangen. Bei Alkoholabhängigen spricht man von Kontrollverlust – ähnlich ist es bei Onlinesüchtigen: Sie können ihren Konsum nicht mehr alleine steuern. Das hat auch zur Folge, dass viele, die eigentlich längst ein Problem mit ihrem Onlineverhalten haben, das nicht realisieren. Sie haben nämlich überhaupt nicht den Eindruck, so lange im Internet zu sein.
Der Internetjunkie selbst merkt gar nicht, dass er süchtig ist?
Wer ein Suchtproblem hat, ist der Letzte, der das überhaupt einsieht. In der Regel reagiert das Umfeld. Zum Beispiel der Partner oder die Eltern – die haben auch in erster Linie den Leidensdruck. Den Angehörigen gefällt das Verhalten des Süchtigen natürlich nicht. Sie sind im Laufe der Zeit immer weniger bereit, zu tolerieren, dass ihr Ehemann oder ihr Kind Stunden und Stunden im Internet verbringt. Irgendwann werden sie aktiv. Sie melden den Anschluss ab oder zerstören in ihrer Verzweiflung die Tastatur und zerschneiden die Kabel. Meistens nutzen solche Maßnahmen nichts, der Betroffene findet immer einen Weg, online zu gehen. Dann suchen die Angehörigen Hilfe bei einem Therapeuten.
Kommen auch Süchtige aus eigener Motivation zu Ihnen?
Nur, wenn sie selbst genug Leidensdruck haben. Wenn zum Beispiel eine Partnerschaft auf dem Spiel steht oder die Kinder vernachlässigt werden. Oder wenn der Süchtige merkt, dass sein Arbeitsplatz gefährdet ist, weil aufgeflogen ist, dass er in der Arbeitszeit chattet. Ein Süchtiger ist nur dann bereit, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, wenn er ernsthafte Konsequenzen befürchten muss.
Wie sieht eine Therapie mit Onlinesüchtigen aus?
Bei onlinesüchtigen Erwachsenen geht es zunächst darum, eine tragfähige Eigenmotivation aufzubauen. Dazu muss man erst einmal eine so genannte Verhaltenserhebung machen: Wann und wie lange bin ich online? Welche Internettätigkeit steht im Vordergrund? Das führt häufig zur Einsicht des Problems. Und wenn der Versuch, die Zeit zu reduzieren, misslingt, dann merken die Betroffenen, dass sie ihr Verhalten nicht mehr im Griff haben. Die Patienten nehmen sich zum Beispiel öfter vor, nur eine halbe Stunde im Netz zu bleiben und merken dann, dass es doch wieder fünf Stunden geworden sind.
Wie können Sie bei Jugendlichen gegensteuern?
Bei Heranwachsenden ist es schwierig, da sie in einem „bockigen“ Alter sind. „Meine Freunde sind doch auch alle online“, sagen sie und sehen nicht ein, warum sie verzichten müssen. Hier müssen auf jeden Fall die Eltern mitarbeiten, und wir versuchen gemeinsam, zu vernünftigen Regeln zu kommen. Zum Beispiel: Wir legen eine Onlinezeit fest, die nicht überschritten werden darf – sagen wir, pro Tag anderthalb Stunden. Zudem muss man das Kind dazu bringen, wieder an anderen Dingen Spaß zu haben und aktiv etwas zu unternehmen. Es muss wieder Lust bekommen auf die andere Seite des Lebens. Oft ist hier die ganze Familie gefordert, die mehr Gemeinsamkeit erleben muss. Es gibt aber auch Fälle, da ist die Sucht schwerwiegender, und diese Vereinbarungen können nicht gehalten werden – teilweise drohen die Jugendlichen im Falle der Sperre des Internetzugangs sogar mit Selbstmord. Dann muss man den Betroffenen stationär behandeln.
Bedeutet das, dass Onlinesüchtige, ähnlich wie Alkoholabhängige, nach dem Entzug immer abstinent bleiben müssen?
Bei Alkoholikern muss man diese Forderung tatsächlich haben. Die Erfahrung zeigt, dass derjenige sonst früher oder später wieder rückfällig wird. Bei der Onlineabhängigkeit haben wir noch nicht so viele Erfahrungswerte. Es gibt ja auch andere Süchte, die nicht mit der Forderung nach Abstinenz geheilt werden können, zum Beispiel Esssucht oder Arbeitsucht. Hier muss der kontrollierte Umgang das Ziel sein. Ähnlich ist es bei der Internetsucht, es sei denn, der Betroffene merkt, dass er sein Onlineverhalten nicht mehr selbst steuern kann. Dann ist erst einmal eine Zeit der Abstinenz angeraten. Später kann man dann versuchen, das Suchtverhalten in ein kontrolliertes Verhalten zurückzuführen.
Haben die Betroffenen Entzugserscheinungen?
Ja. Sie leiden unter nervösen Anspannungen und beschäftigen sich gedanklich ständig – auch wenn sie offline sind – mit dem Internet. Die Unruhe fällt erst ab, wenn sie wieder online gehen.
Man stellt sich vor, dass ein Onlinesüchtiger introvertiert und kontaktscheu ist und deshalb ins Netz flüchtet. Gibt es den typischen Internetabhängigen?
Natürlich sind einsame und isolierte Menschen stärker gefährdet, also Leute, die nicht in ein funktionierendes System wie Partnerschaft oder Freundeskreis integriert sind. Das Medium Internet ist natürlich hervorragend geeignet, so etwas wie eine Beziehung aufzubauen. Und gleichzeitig diese Beziehung unter Kontrolle zu halten. Man kann jederzeit ein- und aussteigen und man ist anonym: Man hat alles in der Hand. Doch auch kontaktfreudige Menschen können süchtig werden. Sie verbringen aus Neugierde und Spaß am Chatten viel Zeit im Netz und können ihren Konsum irgendwann nicht mehr kontrollieren. Man darf das nicht schematisch sehen, es gibt keinen typischen Internetsüchtigen.
Gibt es zumindest eine typische Netzbeschäftigung der Süchtigen? Sie sprachen gerade vom Chatten.
Es gibt Leute, die in erster Linie chatten. Andere, besonders Jugendliche, machen hauptsächlich interaktive Spiele. Viele – vor allem Männer – schauen sich Pornoseiten an. Wieder andere schreiben exzessiv Emails oder laden wie wild Musik herunter. Aber es gibt tatsächlich auch Onlinesüchtige, die einfach stundenlang surfen.
Und es gibt viele Betroffene, nach der Studie der Humboldt-Universität rund 650.000. Dennoch musste die einzige bundesweit arbeitende Selbsthilfegruppe HSO wegen mangelnder finanzieller Unterstützung schließen. Ist Internetsucht als Krankheit noch nicht anerkannt?
Bei der Onlinesucht haben wir es mit einer stoffungebundenen Sucht zu tun, vergleichbar der Arbeits-, Spiel- oder Sexsucht. Der Krankheitsbegriff bezieht sich in der Regel nur auf stoffgebundene Süchte wie Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit. Stoffungebundene Süchte führen dagegen in unserem Gesundheitssystem ein Schattendasein. Sie sind auch häufig noch nicht gut genug erforscht. Einige Krankenkassen zahlen die Behandlung eines Onlinesüchtigen gar nicht, höchstens wenn es zu massiven Begleiterscheinungen wie Depressionen kommt. Und die wenigsten Suchtberatungsstellen und Therapeuten in Deutschland sind bislang auf dieses Thema vorbereitet. Das wird sich aber hoffentlich bald ändern. Denn ich sehe eine Welle an Internetabhängigen auf uns zukommen.
Surfen Sie selbst?
Ja, aber sehr gezielt. Ich habe bestimmte Adressen, die ich gezielt abfrage, aber kein großes Interesse daran, stundenlang im Netz zu sein. Das ist für mich nicht faszinierend.
JUTTA HEESS, 29, lebt als freie Autorin in Mainz. Alle vierzehn Tage jeweils donnerstags berichtet sie auf der Internetseite der taz aus „Juttas neuer Welt“
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