piwik no script img

Einstürzende Weltenräume

■ Überlagerungen freigelegt: Varese und Mahler beim Musikfest

„Diese Woche Krieg?“: Wie ein Sonderangebot preist die „Bild am Sonntag“ ihre Kriegspropaganda auf dem Weg zum Musikfest in der Musikhalle an. In der Tat fällt es schwer, die Aufführung losgelöst vom jüngsten Terroranschlag gegen die USA zu betrachten. Denn zwei überragende amerikanische Individualisten und der vorletzte große deutsche Symphoniker (vor Hans Werner Henze) stehen auf dem Programm des ersten Philharmonischen Konzerts der Saison.

Den Anfang des zweiten Hamburger Musikfestes unter dem Motto Welt-Raum macht Edgard Varèses epochale Komposition Arcana (1925-27). Ein treibendes, wummerndes Stück, mit einem denkbar einfachen, aber majestätischen Auftaktthema. Wechselvoll hangelt sich das 119-köpfige Orchester von Tutti-Aufschrei zu Tutti-Aufschrei, und auf die peitschenden Schläge folgt scheinbar erlösende Stille.

Der Titel bezeichnet das „geheime Kalkül“ (Boulez), das Varèse dem Werk formal zugrunde gelegt hat und das nur mit viel Phantasie entschlüsselt werden kann.

Das Stück klingt, wie man sich vorstellt, dass ein einstürzendes Gebäude klingen muss. Trotzdem: Real vergleichbar ist die Geräuschkulisse natürlich nicht. Und vielleicht wirkt Ingo Metzmachers Interpretation gerade aus diesem Grund hier ein wenig gedämpft und verhalten.

Die überraschend ruhige Coda von Arcana bietet Raum für Gustav Mahlers Fünf Rückert-Lieder (1901-03), die sich in Größe und Länge bescheiden gegen die beiden Rahmenstücke ausnehmen. „Vielleicht gibt es keinen größeren Gegensatz als den zwischen Varèse und dem Lied Ich atmet' einen linden Duft, hatte Metzmacher in der Einführung gesagt. In der fulmi-nanten Interpretation der slowenischen Mezzosopranistin Marjana Lipovschek werden Ich bin der Welt abhanden gekommen und Um Mitternacht dann zu den mitfühlendsten Stücken des Programms.

Nach der Pause wirft Charles Ives in der Prelude zu seiner Vierten Sinfonie (1909-16) keine andere als „die Frage nach dem Was und dem Warum des Lebens“ (Ives) auf. Die folgenden drei Sätze geben ihre teils religiös-esoterischen, teils chaotisch-komischen Antworten. Im Finale antworteten die Streicher: „Nearer, my God, to Thee.“

Von den verschiedenen Tempi-, Musikfanfaren- und Hymnen-Überlagerungen unbeirrt, lässt Metzmacher die Abbauschichten transparent werden; sein Dirigat ist dabei, wie gewohnt, souverän und klar. Ob man aber von Ives' Hymnen- und Marschmusik-Kosmos auch unter weltpolitischen Aspekten bald einen Bogen zu Hendrix' Woodstock-Version von Star Spangled Banner wird ziehen müssen, werden die nächsten Wochen erweisen. Christian T. Schön

heute, 20 Uhr, Musikhalle

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen