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Geräusche und der Mensch

House und anderes: Matthew Herbert liest kluge Bücher, sampelt seine Umwelt und streichelt das Klavier. Aus den Widersprüchen wird Jazz  ■ Von Holger in't Veld

Vom „grössten Kunstwerk“ wird er nicht sprechen. Über den Realitäts-Shift die aktuelle Relativität künstlerischer Distinktion einfach nur wegdudeln, das kann er sich aber ebenso wenig leisten wie das symbolisch-solidarische Schwenken von US-Flaggen. „Ich träume davon“ sagt Matthew Herbert, „dass all der Enthusiasmus, all die Ideen zusammenkommen und wirklich etwas bewirken. Dass keine Waffen mehr verkauft werden. Dass keine McDonalds und Starbucks die Welt gleichmachen.“ Brite, Schöngeist und Globalisierungsgegner: Ein 30-jähriger Musiker, der seine Öffentlichkeit zur politischen Bildung nutzt, vor und nach der Musik über Bücher und Netzwerke spricht, auf seinen Tonträgern konkrete Empfehlungen ausspricht und auf seiner Website diesbezüglichen Austausch einfordert. Zumindest in seinem Bereich, der so genannten Club- oder Dance-Kultur steht er damit allein auf weiter Flur.

Dabei ist die zunehmende Politisierung nur ein Baustein der Entfremdung. Auch musikalisch setzt sich Herbert immer wieder gekonnt zwischen alle angebotenen Stühle, einen davon hat er sogar selbst gebaut: die Fortführung der Musique Concrète ins rhythmische Zeitalter. Er bezeichnete den Sampler als wichtigstes Instrument aller Zeiten und ist ein manischer Sammler von Sound, knickt Plastik, stößt Glas, kratzt Blech und erstellt daraus Funk, führt die Abstraktion der Umgebung wieder zum Körper. Wie Aphex Twin und ähnlich multiple Maschinen-Bediener gönnt er sich dabei ein zielgruppenfreundliches Spektrum von Namen und Prinzipien: als Wishmountain und Radioboy wird Noise zentriert, Dr. Rockit träumt auf agilem Zivilisationsbruch und wird von DJ Matthew Herbert zum Tanz gefordert.

Auf den unter „Herbert“ veröffentlichten Tonträgern ist Tiefe und House die Formel, die Körpermitte das Ziel. Diese vielfältigen Reize brachten ihm, trotz unüberschaubarem Veröffentlichungsapparat kleiner Auflagen und noch kleinerer Labels, weltweiten Respekt und Erfolg – sowie viele rocksozialisierte Avant-Freunde zum ersten Mal in den Club. Auch das von ihm postulierte Dogma, sein „Personal Contract for the Composition of Music“ konnte den Spaß nicht mindern: zehn Gesetze, nach denen nicht nur die Zweitverwertung existenter Musik, sondern auch die Benutzung vorgefertigter Sounds verboten ist. Was bleibt, sind Geräusche. Und der Mensch.

Den gibt Herbert auf seiner letzten Platte Bodily Functions in aller humanistischen Bürgerlichkeit. Hier kommt der ausgebildete Jazz-Traditionalist zum Vorschein, werden traditionelle Instrumente so liebevoll gestreichelt, dass vom Spielerischen, Progressiven und vor allem Exzessiven der anderen Projekte wie auch der Herbert-Vergangenheit wenig zu spüren ist. Dafür aber Massage, Feng Shui und vielleicht doch mal wieder ein Liebesbuch. Das hauchige Organ seiner Musik und Lebenspartnerin Dani Siciliano tut das seine. Wir haben Zeit. Wir brauchen Zeit. „Ich werde gleichzeitig netter und extremer“, sagt Herbert. Die Zusammenführung dieser Tendenzen in einem Projekt und auf einer Platte ist geplant, doch noch verhandelt er sie auf verschiedenen Ebenen. Der Abend des kommenden Mittwoch steht im Zeichen von Pärchen, Poesie, Teezeremonie und gepflegter Freundlichkeit. Die Diskussion über McDonalds und das WTC-Attentat wird – vielleicht – angehängt.

Mittwoch, 22 Uhr, Mojo

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