Ausflug nach Tindari

In seinen Krimis zeichnet Andrea Camilleri ein Porträt der sizilianischen Gesellschaft. Im fünften Band „Das Spiel der Patriarchen“ geht es um eine Wallfahrt inklusive Mord

Als im vorigen Frühjahr die italienische Ausgabe erschien, türmten sich selbst in den Buchhandlungen entlegener sizilianischer Kleinstädte Hunderte von Exemplaren. Es war, als hätte die ganze Insel dem Erscheinen des fünften Krimis mit Commissario Montalbano in der Hauptrolle entgegengefiebert – noch nie konnte ein sizilianischer Autor derartige Erfolge feiern wie Camilleri seit Jahren schon.

Das ist ein Zeichen für das neue Selbstbewusstsein der Inselbewohner, auch wenn sich die Auflösung der mafiösen Strukturen vielleicht als nicht ganz so endgültig erweist wie vor einigen Jahren noch angenommen. Gerade dieser Zwiespalt aber findet sich in den Camilleri-Krimis wieder, und das macht ihren Reiz aus.

So geht es in dem neuen, nun auch auf Deutsch erschienenen Band um den Niedergang der beiden Mafia-Clans, die Camilleris sizilianische Fantasiestadt Vigàta einst fest im Griff hatten. Die Mafia als vormoderne Gesellschaftsform des italienischen Südens – das ist vorbei. Doch was danach kommt, ist kaum besser. Die Mafia neuen Typs erschließt neue Geschäftsfelder bis hin zum Menschenhandel, und sie agiert mit erhöhter Brutalität. Der alte Mafiaboss, auf den der deutsche Titel „Das Spiel des Patriarchen“ Bezug nimmt, kommt nur noch in einer Nebenhandlung vor.

Im Mittelpunkt steht eine Butterfahrt: 40 alte Leute unternehmen einen Ausflug nach Tindari, einem Wallfahrtsort an der sizilianischen Nordküste. Ein altes Ehepaar, von Geiz und Einsamkeit zerfressen, verschwindet spurlos. Montalbanos Ermittlungen im Seniorenmilieu bieten die Gelegenheit zu einer überaus treffenden Sozialstudie. Wie der Kommissar die alten Leute ins Büro bestellt und es dort zugeht, als wäre es ein Schulausflug; wie der Bus andauernd halten muss, weil irgendjemand pinkeln will und alle anderen dann auch ein Bedürfnis verspüren; wie die Rentner misstrauisch hinter ihren schwer verriegelten Wohnungstüren lauern – das alles beschreibt der 76-jährige Autor in seinem bislang besten Krimi wirklich grandios.

Leider geht ein Teil des Sprachwitzes, der auf dem gezielten Einsatz des sizilianischen Dialekts beruht, durch die Übersetzung verloren. Daran lässt sich nichts ändern – es sei denn, man wollte den sizilianischen Kommissar auf Schwäbisch parlieren lassen. Die Übersetzerin behilft sich, indem sie das eine oder andere Originalzitat einstreut – vor allem, wenn es ums Essen geht.

Der genussfreudige Kommissar aus Italien, der unkonventionelle Methoden pflegt und seinen blasierten Vorgesetzten zu nehmen weiß: das erinnert fatal an Donna Leons venezianischen Ermittler Guido Brunetti. Aber nur auf den ersten Blick. Denn anders als die Amerikanerin Donna Leon pflegt Camilleri nicht den verklärenden Blick auf ein exotisches Sujet. Sein erklärtes Vorbild ist vielmehr der spanische Autor Manuel Vázquez Montalbán, der dem Commissario Montalbano den Namen gab. Auch der Spanier benutzte seinen Privatdetektiv Pepe Carvalho, um das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch zu zeichnen – im einen Fall geht es um das Spanien nach Franco, im anderen um das Sizilien nach dem Niedergang der Mafia.

Camilleris Bücher sind für auswärtige Leser allerdings leichter verdaulich. Das liegt nicht zuletzt an der Identifikationsfigur, die der Autor ihnen anbietet: Er verpasst seinem Commissario kurzerhand eine konfliktträchtige Fernbeziehung zu einer Frau aus Genua, die den sizilianischen Verhältnissen so verständnislos gegenübersteht, wie es Norditaliener oder Mitteleuropäer nun einmal tun. RALPH BOLLMANN

Andrea Camilleri: „Das Spiel des Patriarchen“. Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim. Edition Lübbe, München 2001, 315 S., 36 DM