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Glanz, der auf Arbeiter fällt

Frody Grytten schreibt Short Cuts aus Norwegen und betitelt sie unironisch: „Was im Leben zählt“

Eine hässliche Welt,in der das Schöne zu Hause ist – hier jedenfalls gibt es das

von ANGELIKA OHLAND

Wo, herrje, liegt Odda? Das Register im Atlas gibt das Quadrat C 7 auf der Norwegenkarte an. Und tatsächlich. Odda: ein Punkt am Sörfjord, Berge bis 1.600 Meter, etliche Fjorde drumrum und in gebührendem Abstand ein paar weiße Punkte, die Orte bis 10.000 Einwohner markieren. Erst zwei Planquadrate weiter links eine Stadt mit bekanntem Namen: Als ich Bergen entdecke, glaube ich endlich, dass es auch Odda wirklich gibt.

Aber ist das eigentlich wichtig? Nur weil der Norweger Frode Grytten das Industriestädtchen Odda, genauer: dessen Arbeiterblocks und seine Bewohner, zum Mittelpunkt seiner Storys macht? Zur Orientierung dienen Grytten ganz andere Koordinaten: zum Beispiel die Musik von The Smiths und die Soloaufnahmen des Smiths-Sängers Morrissey, aber auch Van Morrison und sogar Frank Sinatra führt er an. Und dann das Kino – bei ihm hat Grytten für die Schreibtechnik einiges gelernt. Short Cuts: Dieser Begriff hat sich seit Robert Altmans gleichnamigem Film auch in der Literaturkritik für eine Geschichte eingebürgert, die nicht zusammenhängend, sondern in losen Spots auf Menschen und Situationen erzählt wird. Nacheinander abgespult ergeben die Spots dann ein Bild, obwohl es zwischen den Figuren der Sequenzen kaum Berührungspunkte gibt.

Odda also. Ein Ort irgendwo zwischen Kino, Musik und Fjorden. Eine Arbeiterstadt, in der selbst die Kneipe noch an Arbeit erinnert. „Schmelzer“ heißt sie, weil die Leute, die dort ihr Bier trinken, an den Schmelzöfen ihr Geld verdienen. Das hellhörige Mietshaus, in dem Frode Grytten seine Figuren untergebracht hat, wird nur „der Arbeiterblock“ genannt.

Es ist eine Wabe voller Geschichten, und mal guckt Grytten in diese, mal in jene Wabenwohnung hinein. Alles sehr real, denkt man, und alles vollkommen märchenhaft. Eine hässliche Welt, in der das Schöne zu Hause ist – kann es das geben? Hier jedenfalls gibt es das.

Und deshalb muss jetzt endlich von den Menschen erzählt werden. Davon, was sie am Leben hält und was sie glücklich macht. Glücklich? Sagen wir es so: Nicht vom großen, immer währenden, vom verlogenen Glück also ist hier die Rede, sondern von glücklichen Momenten, von jenen Augenblicken, welche die Menschen weiterleben lassen und für die sie alles tun.

Das hört sich realistisch an und wirkt doch fremd und fern, wenn es geschieht. „Was im Leben zählt“ – dieser Titel ist völlig ernst und unironisch gemeint. Und sogar ein Begriff wie Zufriedenheit erscheint plötzlich wieder rein und klar.

Denn so ist es doch, denkt man: „Man versucht, ein ganzes Leben lang zufrieden zu sein, aber man kommt niemals an, denn man legt alles Wichtige beiseite, während man auf den Tag in seinem Leben wartet, der niemals kommt.“ So etwa hat es Morrissey gesagt, und so kommt es dem Mann in der ersten Grytten-Story in den Sinn.

Der Mann sitzt neben seiner Mutter, deren Haut wie aus dünnem Papier ist. Zusammen warten sie auf ihren Tod. Was im Leben zählt? Gerne hätte er ihr gesagt, dass er sie liebt. Stattdessen fährt er mit dem Rad zum Busbahnhof. Er spricht eine Frau an. Ob sie ihn heiraten wolle? Nein, das wolle sie nicht. Beim dritten Versuch endlich bringt er ein nettes Mädchen mit nach Hause. Nicht dass die beiden nun ein Paar wären. Das gaukeln sie nur der sterbenden Mutter vor, weil es sie glücklich macht. Dann gehen sie wieder auseinander. Nur mit einem haben die beiden nicht gerechnet: dass ein Abglanz dieser Illusion fortan als Möglichkeit auf ihr Leben scheinen wird.

Von solchen Möglichkeiten erzählt Frode Grytten in seinen vier mal sechs Storys (plus eine Hochzeitsnacht als Postskriptum), die er wie Strophen eines Songs aufeinander folgen lässt. Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit – derart pompöse Themen bekommen in der Konkretion menschliches Maß. In Odda möchte man nicht begraben sein, aber diese Geschichten sind bei aller Tristesse und allen Abhängigkeiten unverschämt positiv. Denn immer kulminieren Gryttens Erzählungen am Ende in einer Öffnung. Eine Tür geht auf – dann bricht die Story ab.

Manchmal ahnt man, dass nach dem Aufscheinen solcher Glücksmöglichkeiten der Absturz folgen wird, aber nie lässt Grytten es dazu kommen. „Komm nach draußen und such mich. Komm und such mich.“ So klingt ein typisches Grytten-Ende. Weniger als ein Versprechen, und doch liegen Welten in diesem Satz.

Ob die Ehefrau ihren Geliebten in der Dunkelheit der Nacht finden, ob sie bei ihm bleiben oder zu ihrem Mann zurückkehren wird – man erfährt es nicht. Und trotzdem ist etwas aufgebrochen, ist ein Glanz auf das Leben dieser Frau gefallen. Irgendeine Möglichkeit gibt es immer. Ein dünner Mann frisst und frisst, bis er vor Fett kaum noch atmen kann, um die Liebe einer dicken Frau zu gewinnen. Oder einige Jungen spielen Mondlandung und streiten sich, wer als Erster den Fuß auf den fremden Boden setzen darf. Die Entscheidung fällt auf den verrückten, behinderten Gaga-Finn, weil „der Mensch zähle und nicht die Maschinen“.

Dabei denkt Grytten nicht daran, die realen Machtverhältnisse außer Kraft zu setzen. Er führt seine Figuren nur an den Punkt, wo sie bereit sind, etwas trotzdem zu tun. Wenn Sean Penn den Direktor des Schmelzwerks mit vorgehaltenem Gewehr nackt durch die Fabrik jagt, weil er ihn mit seiner Frau im Bett erwischt hat, dann mag er später dafür zahlen – für diesen Moment ist er freier Mann.

Frode Grytten: „Was im Leben zählt“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2001, 333 Seiten, 39,80 DM

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