jazzkolumne
: Ein Briefwechsel über den Jazz mit Adorno

Taubes Expertenhören

Die Maultaschensuppe wird hier nur auf Vorbestellung ausgegeben. Marbach liegt am Neckar, eine halbe Stunde von Stuttgart entfernt, doch wer zum Mittag kommt, hat Pech. Zwei, drei Tage vorher muss der Wunsch nach der lokalen Spezialität, der schwäbischen Köstlichkeit in eine Liste eingetragen werden, am selben Tag ist da leider überhaupt nichts mehr zu machen. Zwischen eins und halb zwei ist Essensausgabe in der Cafeteria des Marbacher Literaturarchivs – das Angebot, eine Maultasche abzugeben, kommt von der besorgten Archivmitarbeiterin, nicht von der Köchin. Doch zum Glück braucht es für den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno, Hans Paeschke und Joachim Ernst Berendt, der im Handschriftenarchiv einsehbar ist, nur einen halben Tag. In Marbach lagert das Archiv der Zeitschrift Merkur und die Korrespondenz des damaligen Herausgebers Paeschke mit seinen Autoren.

Es geht darin, kurz gesagt, um folgendes: Adorno wollte das autonome Kunstwerk und die Avantgarde gegen den Jazz verteidigen, Berendt wollte mit dem Jazz dazugehören, und Paeschke wollte Adorno als Autor und Berendt als Alibifan.

Begonnen hatten die Bemühungen Paeschkes, Adorno als Autor für die neu gegründete Zeitschrift zu gewinnen, bereits im Dezember 1946. Dass er ausgerechnet Adorno um einen Artikel zum Thema Jazz bittet, mag verblüffen. Denn Adorno mochte diese Musik bekanntlich nicht. Das hatte er bereits 1933 in der Europäischen Revue kundgetan, als er anlässlich des Naziverbots, im Rundfunk „Negerjazz“ zu übertragen, schrieb, dass die Jazzmusik ohnehin in Selbstauflösung begriffen sei und dass mit ihr lediglich ein „Stück schlechtes Kunstgewerbe“, weder aber eine kulturbolschewistische Bedrohung noch eine musikalische Dominanz der „Negerrasse“ vor der nördlichen „ausgemerzt“ würde. Und auf diesen Artikel, der auch Jahre später noch den Rezensenten gewaltige Bauchschmerzen bereiten sollte, nahm Paeschke nun Bezug. Das Thema sei zu der zentralsten seelischen Angelegenheit der modernen Welt geworden, schrieb er 1946 nach New York, c/o Professor Horkheimer, doch Adorno winkte zunächst ab.

In der eher positiv gestimmten Jazz-Betrachtung von Seiten seiner Peers und Leser witterte Adorno einen Verfall des intellektuellen Niveaus, einen Verlust intellektueller Autonomie und dessen Auflösung ins System der Kulturindustrie. Die kritische Theorie mache sich den Jazz erst in dem Moment zum Gegenstand, wenn jene interessengeleitete „Zeitlose Mode“ sich als modern oder gar als Avantgarde verkennt, resümierte Adorno später, 1962, in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“.

Doch das waren dann schon die Nachwehen zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Auseinandersetzungen über den Jazz, die 1953 im Merkur mit einer bis heute sehr aktuellen Wendung geendet war. Der Jazz ist schlecht, konterte Adorno dort das von Berendt favorisierte Protestimage des Jazz, weil der Jazz die amerikanischen Schwarzen in die Schranken kollektiver Identität verweise. Dem von Berendt behaupteten Authentizitätsbonus hielt Adorno entgegen, Jazz könne vielleicht gerade noch der Sehnsucht der Fans nach etwas anderem genügen, die Schwarzen jedoch nur beleidigen, da er sie zur ständigen Erinnerung ihres Sklavendaseins zwinge. Den „St. Louis Blues“ bezeichnete Adorno als musikalisch durch und durch niveaulos, die vermeintliche Autorität eines Louis Armstrong, der ihm vollends als Star der Kulturindustrie erschien, war ihm erst recht suspekt, und vom musikalischen Material her gäbe es am Jazz eh ganz und gar nichts Modernes zu dechiffrieren. Finis.

Doch auch trotz dieses für die Kritische Theorie eher ungewöhnlichen Bilderreichtums gelang es Adorno über seine Kreise hinaus kaum, den Jazz damit kleinzureden. In den Sechzigerjahren begann der Jazz am subventionierten Kanon zu partizipieren. Knapp vierzig Jahre später, im September 2001, spricht der Opernkomponist Hans Werner Henze in Frankfurt am Main von den Handschellen der seriellen Musik und dem Wunsch des Komponisten, trotz engster Zwänge noch ein Monogramm tüpfeln zu können. Bei der Aufführung des vollständigen Klavierwerks, die einschließlich Henzes Kommentare nach knapp 75 Minuten zu Ende ist, spielte Jan Philip Schulze am Freitagabend auch Henzes Komposition von 1963, „Lucy Escott Variationen“, eine wundersame Bearbeitung der Bellini-Arie „Come a ne sereno“. Henze bemerkt dazu heute, wie wenig es ihm doch gelang, die Dominanz der Melodie zu schmälern. Der Wiedererkennungseffekt ist und bleibt omnipräsent.

Beim Wiederhören seiner Musik erkennt Henze nun Robert Schumann, nicht als Zitat zwar, vielmehr als Stimmung, und Haydn als mächtige Quelle. Ihn interessiert sogar, ob das raue Wüstenklima am Indischen Ozean oder das mandolinenträchtige Neapel erkennbare Spuren in seinem Werk hinterlassen haben. Gut tut vor allem aber, dass die von Adorno und seinem Entwurf des Expertenhörers perfektionierte Haltung, Musik sei etwas zum Lesen, von ihm so gründlich gekontert wird. Ob es sich um eine Doppelfuge hier oder eine Sonate da handelt, sind letztlich doch Fragen nach der Form geblieben. Der Musikrezeption haben die inneren Gesetzmäßigkeiten wenig genutzt. Adorno wollte die so genannt neue Musik der Wiener Schule, zu der ganz prominent auch seine eigenen Lehrer Alban Berg und Arnold Schönberg gehörten, einst gegen den Jazz verteidigt wissen.

Der Publizist und Rundfunkmann Joachim Ernst Berendt nahm 1953 die Herausforderung an, mit „seinem“ Jazz teilhaben zu wollen an der Definitionsmacht. Er schrieb gegen Adornos taubes Jazztheorem, weil er unbedingt beim Relaunch des Kanons mitmischen wollte. Der Jazz wurde später zeitweilig sogar zu einer produktiven Nische im nachkriegsdeutschen Hochkulturbetrieb. Adorno wollte das notierte Werk lesen, Berendt betonte das Hören, Sehen und Tanzen, das in der oral tradition so wichtig ist. Die für den Jazz so grundlegende Bedeutung von Sound war nur ein weiteres Axiom, das in Adornos Bezugsrahmen keinen Platz hatte. Es passte einfach noch nicht.

CHRISTIAN BROECKING

„Jazz und Gesellschaft“ ist auch das Thema beim 7. Jazzforum in Darmstadt, das vom 27. bis 30. September stattfindet