„Wir waren die Ratten“

■ ZeitzeugInnen des Nazi-Regimes: Die Jugendlichen heute hören zu, wenn ehemalige Hitler-Jungen von ihrer Kindheit erzählen

Karl Lüneburg, Martin Marquardt und Detlef Dahlke gehören zum Arbeitskreis „Zeitzeugen im Gespräch: Kindheit und Jugend im Nazireich“. Geboren 1926 beziehungsweise 1927 sind sie Angehörige der Hitler-Jugend-Generation. Die drei Männer sind keinesfalls Opfer der Nationalsozialisten, im Gegenteil: Sie waren als Jugendliche mit Begeisterung dabei.

„Erfahrungen und Verdrängungen“„

Seit 1945 setzen sie sich mit ihrer Vergangenheit kritisch auseinander, Detlef Dahlke engagiert sich seit den fünfziger Jahren für die Kriegsdienstverweigerung. Außerdem treffen sie sich im Arbeitskreis, wo sie mit „schonungsloser Offenheit“ über ihre Erfahrungen und Verdrängungen sprechen: „Wir bekennen, stramme Hitlerjungen gewesen zu sein, die das Vaterland retten wollten“, erklärt Marquard.

Mit dem Bekenntnis allein geben sich die Angehörigen des Arbeitskreises aber nicht zufrieden. Sie wollen in Schulen und Jugendgruppen gehen, um der heute jungen Generation ihre Erlebnisse zu berichten. „Wir wollen den Jugendlichen klar machen, was passieren kann, wenn sie solchen Rattenfängern nachlaufen. Wir waren ja damals die Ratten, die sich haben fangen lassen.“

Ehemalige Hitlerjungen treffen auf Glatzen von heute

Martin Marquardt und Klaus Lüneburg haben schon unterschiedliche Situationen mit Jugendliche erlebt: Marquardt berichtet beispielsweise von einer Vortragsveranstaltung mit einem Lehrer aus Syke. Der habe über eine „anti-rechte Demonstration“ berichtet. Ebenfalls anwesende rechte Jugendliche hätten gestört. Schließlich sei ein Angehöriger des Arbeitskreises, der eine schwere Kriegsverletzung habe, aufgestanden, habe seine nur noch halbe Wade entblößt und sich an sie gewendet: „Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, was es heißt, rechts zu sein?“ Danach waren die Rechten still.

Diese Situation war Auslöser für den Wunsch der drei ehemaligen „Hordenführer“, auf Jugendliche zuzugehen und ihnen von Hitler-Jugend, Krieg und Hunger zu berichten.

Um auf diese Gespräche besser vorbereitet zu sein, haben jetzt neun ältere Männer und Frauen am vergangenen Dienstag an einem Rhethorik-Seminar teilgenommen. Der Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit hatte sich darum gekümmert. Ende Oktober schließt sich der erste Besuch bei einer schulischen Arbeitsgemeinschaft an.

Großeltern erzählen ihren Enkeln nichts

Wieviel sie mit ihren Zeitzeugen-Berichten bei Jugendlichen erreichen können? – „Ich habe schon einmal eine Stunde lang vor einer Klasse gesprochen“, erzählt Karl Lüneburg. „Die Kinder waren ganz leise und haben gut zugehört.“ Oft würden deren Großeltern nämlich gar nichts aus ihrer Jugend erzählen, viele würden diese Zeit verdrängen. Demgegenüber hätten sie durch den Aufbau der Demokratie einzuschätzen gelernt, „was richtig ist und was von übel“, ergänzt Marquardt. Und das wollen sie weitergeben. Darüber hinaus hat er festgestellt: „Die Jugend will etwas über die Zeit wissen und hört auch zu!“

HJ-Rekrutierung am Wandertag zu „Führers Geburtstag“

Was haben die Männer weiterzugeben? Detlef Dahlke erzählt von seinem Eintritt in die Hitler-Jugend, 1937, kurz nach Ostern. Dahlke war gerade in die vierte Klasse gekommen: An seiner Schule fand ein Wandertag statt. Die Jungen mussten 25 Pfennige mitbringen. Statt aber zu wandern und zu spielen, landeten die Kinder bei einer Musterung. Das mitgebrachte Geld brauchten sie für die erste Monatsmarke, die ihnen in ihren nagelneuen HJ-Ausweis geklebt wurde. Dahlkes Eltern wussten vorher nichts von dem, was die Nazis mit ihren Kindern vorhatten und waren alles andere als erfreut, als ihr Zehnjähriger seinen neuen Ausweis zeigte. Schließlich waren sie der Überzeugung: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Trotzdem unternahmen sie und auch andere Eltern in Gröpelingen nichts gegen die Rekrutierung ihrer Kinder, aus Angst vor den Faschisten.

Karl Lüneburg erinnert sich: „Als der Krieg ausbrach, haben wir geheult, weil wir noch zu jung waren, um Soldaten werden zu dürfen. Wir konnten ja nicht ahnen, dass der Krieg einige Jahre dauern würde.“ Mit 17 Jahren wurden die drei eingezogen: „Wir konnten gar nicht schnell genug an die Gewehre kommen.“ Und Martin Marquard ergänzt: „Wir waren überzeugt, das Richtige zu tun. Wir glaubten, auf der Welt das hervorragende Volk zu sein.“

Der Arbeitskreis „Zeitzeugen im Gespräch: Kindheit und Jugend im Nazi-Reich“ trifft sich an jedem zweiten Donnerstag im Monat im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus in Vegesack.

aro