Demokratie von unten

In der DDR waren sie aufrichtig engagierte Aktivisten, die Literatur schrieben, auf Baggern sangen oder Eisbären domptierten: Das Willy-Brandt-Haus zeigt mit „Das Kollektiv bin ich!“ eine Ausstellung über gelebte sozialistische Utopien und ihr Scheitern

von ANDREAS HERGETH

Heutzutage hängt man nur noch selten großen Träumen für die Zukunft nach. Wer verbindet denn wirklich Utopien mit Wörtern wie Globalisierung und Gentechnik? Eher schon ist von Utopieverlust die Rede. Vielleicht, weil vor allem von den sozialistisch geprägten Entwürfen keine Attraktivität mehr auszugehen scheint.

Zu DDR-Zeiten war dies anders, wie nun im Willy-Brandt-Haus nachzuprüfen ist: Dort wird mit „Das Kollektiv bin ich – Utopie und Alltag in der DDR“ eine Ausstellung des Dokumentationszentrums für Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt gezeigt. Fünf Träumer stehen im Mittelpunkt, die ein für die DDR ungewöhnliches Dasein führten, sich ihre Utopie sozusagen im Alltag zusammenbastelten. Die Lebensgeschichten kommen in jeweils drei kleinen, beengten Ausstellungsboxen daher. Die Enge ist zwar den räumlichen Gegebenheiten des Eisenhüttenstädter Museums geschuldet, das in einem alten Kindergarten unterbracht ist, doch symbolisiert sie damit auch das Verbindende: Mit ihren Idealen stießen die Akteure schnell an die engen Grenzen des DDR-Sozialismus.

Anhand von Texten, Fotos und Utensilien der fünf Protagonisten versucht die Ausstellung zu klären, warum die DDR so lange existieren konnte: Weil es viele Menschen gab, „die gleichzeitig mit und gegen den Strom schwammen und sich trotz aller Brüche immer als Bürger der DDR verstanden“, wie Franziska Becker und Ina Merkel im Begleitband schreiben. Und weil es Menschen wie den von sozialistischen Idealen überzeugten und an den Realitäten scheiternden FDJ-Sekretär Frank Donszinsky oder den Hobbyfilmer Ernst Süß gab. Dieser gründete, um an Fördergelder zu kommen, eine Amateurfilmgruppe, blieb aber deren einziges aktives Mitglied: „Das Kollektiv bin ich!“

Brigitte Reimann (1933-73) war auch so eine. Katholisch erzogen, versucht sie den Spagat zwischen sozialistischer Moral und ausschweifendem Liebesleben. Luftschlösser und Plattenbauten, wie in ihrem erst posthum veröffentlichten großen Roman „Franziska Linkerhand“ beschrieben, bestimmen ihr Denken und Fühlen. Dabei war die Reimann selbst gut für Traumprojektionen anderen Frauen: Mit einer fast selbstzerstörerischen Sehnsucht nach einem Leben, in dem Privates und Politisches nicht antagonistisch, sondern harmonisch sein sollten.

Sie hatte naive Phantasien von einem „gemütlichen Sozialismus“: Als die Schriftstellerin 1960 nach Hoyerswerda in einen der neuen Plattenbauten zog, folgte dem Enthusiasmus einer „schönen, modernen Stadt beim Wachsen zuzusehen“ bald Ernüchterung. Kein Kino, weder Tanzpalast noch schickes Restaurant, nur Einöde aus Beton. Dass in Hoyerswerda „Fälle von psychischen Neurosen häufiger auftreten als in anderen Städten“ schrieb sie drei Jahre später in der örtlichen Zeitung. Es folgten Liebeleien, Dienste für die Stasi, Zensur – die Reimann zehrte sich auf, ging an ihren Vorstellungen eines anderen Sozialismus buchstäblich vor die Hunde. Den Rest übernahm der Krebs.

Auch Gundermann (1955-98) hat nicht überlebt. Auch seine Biographie wird als eine im Politischen verankerte Utopie vorgestellt. Der selbstbewußte Arbeiter und engagierte Kommunist träumte von Egalität wie von individueller Freiheit. Und hatte damit denkbar schlechte Karten. Erst FDJ-Sekretär, dann Informeller Mitarbeiter der Stasi, rechnete der singende Baggerfahrer später mit dem Funktionärsapparat im Kulturbetrieb wie im Kohletagebau ab. Folgerichtig flog er 1984 aus der SED. Und erklärte dem SED-Chefideologen Hager im März 1989, was fehlt im Land: Demokratie von unten. Doch auch dieser Traum verpuffte für Gundermann nach der Wende

Die einst in aller Welt gefeierte Dompteuse Ursula Böttcher, 1927 geboren, stand 36 Jahre lang mit Eisbären in der Manege. Die einzigartige Raubtiernummer brachte der DDR viel Ruhm und noch mehr Dollars dank jahrelanger Gastspiele im Westen ein. Dafür lebte die Dresdnerin ihren Jugendtraum ohne je daran zu denken, der DDR den Rücken zu kehren. Pflichterfüllung und Arbeitsethos standen wie bei vielen ihres Jahrgangs an vorderster Stelle. Und „zu gut wusste sie um die Kosten des Unterhalts der Eisbären, die auf Dauer kein privater Zirkus sichern konnte.“ Nach der Wende wurde Böttcher gekündigt, ihre Eisbären hier- und dorthin verschenkt. So schnell können Jugendträume ausgeträumt sein.

Bis 19.10., Di.-So. 12-18 Uhr, Willy-Brandt-Haus, Stresemannstraße 28. Begleitband 29,80 DM (Böhlau Verlag)