ohne taschenrechner durch den bücherherbst von OLIVER MARIA SCHMITT
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Sie brauchen’s nicht weiterzusagen, denn hier steht‘s ja schwarz auf weiß: Christian Krachts neues Buch ist erschienen. Jawohl. Es kostet Geld und heißt „1979“. Was drinsteht, ist, wie auch bei seinem ersten Roman, völlig unerheblich; dennoch kann man das „Werk“ (H. Karasek) jetzt schon eindeutig abheften. Grund: Zahlenmystik. Zahlen gehen immer, sind kalkulierbar, haben Bestand und sind selbst für Analphabeten mühelos interpretierbar.

Eröffnet wurde der neuerliche kabbalistische Bücherreigen bereits im Frühjahr, und zwar durch den Franzosen Frederic Beigbeder. Sein Roman hieß „39,90“ und warf sofort nach Erscheinen zwei bis drei brisante Fragen auf: Wer hat beim Übersetzen geschummelt? Schließlich heißt Beigbeders Buch im Original eindeutig „99 Francs“, konvertiert also nur DM 29,55! Wer also kassiert die restlichen zehn Mark? Und: Wie wird das Buch nach der Euro-Umstellung heißen?

Diese nominelle wie numerische Hürde hat Kracht mit „1979“ glänzend gemeistert. Dennoch hat er aber damit die Orwellsche Bestmarke „1984“ um glatte fünf Zähler verfehlt – vielleicht ja auch deswegen, weil sein Buch mindestens fünfmal besser beziehungsweise schlechter ist als Orwells Dauerseller für 16-jährige Überwachungsfetischisten.

Als Pionier im vierstelligen Bereich darf mit Fug Yasunari Kawabata gelten, der sich mit „Tausend Kraniche“ auf gefährliches Terrain vorwagte; ist doch die 1000er-Marke schon durch so eingängige Titel vom Schlage der „Tausend ganz legalen Steuertipps“ oder „Tausend Tipps für die Gitarre“ belegt. Auch nicht schlecht: „Tausend tolle Tennis-Typen“ von Ulrich Kaiser. Noch besser und klüger aber, gleich einen Zähler weiter zu gehen und etwa mit den Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“ einen echten Klassiker ins Regal zu stellen.

Womit freilich im vierstelligen Bereich auch nicht mehr viel zu holen ist, „1979“ hin, „1984“ her. „Das Zen der ersten Million“ von Claus David Grube dünkt hier gleich tausendmal imposanter und brillanter, weswegen Mark Twain ja auch die Erzählung „Die Eine-Million-Pfund-Note“ geschrieben hat, die nach heutigem Umrechnungskurs immer noch mit deutlich mehr als drei Mios zu Buche schlägt. Friedrich Jahns Neverseller „Vom Kellner zum Millionär und wieder zurück – Ein Leben für den Wienerwald“ konnte daran, wohl wegen des verklausulierten Zahlenwertes, nie anknüpfen.

Wem das zu hoch ist, der muss tiefer stapeln und sein Heil, wie Sabrina Hoppe, „Zwischen null Toleranz und null Autorität“ suchen. Oder, wie Bret Easton Ellis, gleich „Unter Null“ gehen, darf aber auch vor „Minus 50 Grad“ nicht zurückschrecken, wie es die tapfere Barbara Quandt vorgemacht hat. Bitte aber berücksichtigen: Tiefer als minus 273,15 Grad (0 Kelvin) geht nicht.

Wer sich Krachts übrigens recht gesucht wirkenden Buchtitel nicht merken kann, dem sei der ungleich spannendere Faction-Thriller „Eins-Komma-Zwei-Fünf-Dihydroxy-Vitamin D3 Calcitriol“ von Eberhard Ritz u. a. empfohlen. Erschienen natürlich bei Schattauer in Stuttgart. Wie alle guten Bücher.