: Jetzt ist jede Sekunde kostbar
„Hier kann man noch unbeschwert jung sein“, sagt Shaked. Bevor sie ihren Militärdienst antritt, hat die junge Israelin Berlin und Brandenburg besucht – auf Einladung von Bundespräsidenten Johannes Rau. Nach zehn Tagen fällt Shaked der Abschied schwer – besonders von ihrer neuen Freundin Corina
von BETTINA FICHTNER
Shakeds Augen strahlen. Die Stadtführerin macht eine Pause, und das hoch gewachsene Mädchen schlingt ihre Arme um den Bauch von Corina, die fast einen Kopf kleiner ist. Shaked schließt die Augen. Man könnte die beiden jungen Frauen für langjährige Busenfreundinnen halten oder für ungleiche Schwestern, doch sie kennen sich erst ein paar Tage.
Shaked, 18 Jahre alt, ist vor kaum zehn Tagen am Frankfurter Flughafen angekommen. Eigentlich lebt die Israelin in Yavne, einer Kleinstadt 20 Minuten südlich von Tel Aviv. Dort hat sie vor ihrer Abreise die Schule beendet, und wenn sie heimreist, erwarten sie zwei Jahre Militärdienst. Für sie wie für die meisten Israelis keine lästige Pflicht, sondern ganz selbstverständlich. Die Verteidigung der Heimat.
Die Abiturientin, die mit Spangen im Kurzhaarschnitt fast kindlich wirkt, ist froh, nun erst einmal hier zu sein – auf Besuch in der Bundesrepublik. Gemeinsam mit 19 weiteren Israelis nimmt sie am zehntägigen Johannes-Rau-Stipendiatenprogramm teil. Hier in Deutschland sei nämlich alles ganz anders, meint Shaked. Hier könnten die Jugendlichen noch unbeschwert jung sein. Ohne ständig die Gewalt des Nahost-Konflikts im Nacken zu spüren. Ohne beim Fernsehen fürchten zu müssen, dass der blutende Soldat ein Freund oder Bekannter ist.
„Hier gibt es eben noch Teen-Spirit“, schwärmt Shaked in fast akzentfreiem Englisch und unterstreicht mit wilden Gesten, dass sie ernst meint, was sie sagt. Die Stadtführung geht weiter, durch den Ostteil der Berliner Innenstadt. Vorbei am Abgeordnetenhaus, dann zum Gelände der „Topographie des Terrors“. Eine Dokumentation der Nazi-Diktatur, ein Mauerrest, wo sich damals die Schaltzentralen von SS und Gestapo befanden. Die Gruppe beginnt über die damaligen Möglichkeiten des Widerstands zu diskutieren, aber Shaked und Corina hören nicht zu. Sie stehen abseits und betrachten unter schlichten Holzpavillons die Schwarzweiß-Porträts prominenter Gestapo-Opfer. „Was geschehen ist, kann man nicht ändern, aber man darf es nie vergessen“, sagt Shaked, die trotz der so präsenten Geschichte ganz ruhig bleibt.
Sie war schon in Treblinka und Auschwitz, wo hunderttausende Juden den Tod fanden. Und obwohl ihre Großeltern Holocaust-Überlebende sind, hat die Israelin ein sehr offenes Verhältnis zu Deutschland. „Dieses Land hat sich in den letzten 50 Jahren total verändert. Es ist eine echte Demokratie geworden.“ Sie glaubt nicht, dass so etwas noch einmal passieren kann.
Die Stadtführerin beendet ihren Vortrag, und schon geht es weiter in Richtung Wilhelmstraße, wo nichts am heutigen Ministerium für Arbeit und Soziales an dessen Vergangenheit als Sitz von Propagandaminister Goebbels erinnert. Die Gruppe verweilt hier nur kurz – das Programm ist gedrängt, und noch stehen der Potsdamer Platz und Kreuzberg auf dem Ausflugsplan. Es sind nur dreieinhalb Tage Zeit, um den 16- bis 18-jährigen Israelis einen Eindruck von Geschichte und Gegenwart der Hauptstadt zu vermitteln.
Die erste Woche des Aufenthalts haben die Jugendlichen bei ihren Gastfamilien in verschiedenen Bundesländern verbracht. Shaked wurde vom Pädagogischen Austauschdienst, der die Reise koordiniert, nach Potsdam geschickt. Zu Corina und ihrer Familie, bei der sich die Israelin „so richtig wohl“ fühlt.
Doch hier in Potsdam machte sie auch eine Erfahrung, die Shakeds positivem Deutschlandbild bisher unbekannte Nuancen hinzugefügt haben. Fast ein bisschen verlegen erzählt sie von dem Diskobesuch in Potsdam, bei dem sich ein offensichtlich angetrunkener Teenager wunderte, warum sie denn englisch und nicht deutsch spreche.
„Als ich ihm erklärte, dass ich aus Israel bin, guckte er mich verständnislos an. Ich fragte ihn, ob er wüsste, dass Israel der Staat der Juden sei, worauf er den Kopf schüttelte und stammelte: ‚Das ist unmöglich. Du kannst doch keine Jüdin sein, mit den blonden Haaren!‘ “
Corina, die ganz gothic einen schwarzen Fransenponcho trägt, engagiert sich in ihrer Freizeit gegen Fremdenhass und Intoleranz. Sie regt sich noch im Nachhinein über die Geschichte auf: „Hätte der noch einen Mucks gemacht, ich hätte ihm eins in die Fresse gehauen!“, ruft sie empört.
Die Führung geht weiter in Richtung Museumsinsel. Doch Shaked und Corina brauchen erst mal eine Pause. Sie sind müde von der vielen Lauferei und setzen sich kurz auf einen Treppenabsatz. Gestern Abend ist es spät geworden. Und den zwei neuen Freundinnen bleibt nur noch wenig Zeit. Am Mittwoch muss Shaked wieder zurück nach Israel, jede Minute ist kostbar.
„Ich habe Corina und ihre Familie zu mir nach Hause eingeladen“, sagt sie und legt den Arm um die Gymnasiastin. Die lächelt etwas gequält. An Abschied will sie jetzt noch nicht denken.
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