Du auch nicht

Nummernrevue mit großartigen Momenten, aber ohne Subtext und paradiesische Verheißungen: Christoph Marthaler inszeniert „Die Zehn Gebote“ nach Raffaele Viviani an der Berliner Volksbühne

von CHRISTIANE KÜHL

Beschlossen ist: Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert des Terrorismus. Oder das Jahrhundert der Religionen, was, wenn man den mantraartigen Beschwörungen dieser Tage Glauben schenkt, sowieso auf dasselbe hinausläuft. Viele Menschen in der westlichen Hemisphäre überrascht das, weil Gott doch vor gut hundert Jahren für tot erklärt wurde. Aber da hatte man seine internationalen Filialen nicht bedacht. Nach dem 11. September ist das Interesse an ihnen schlagartig gestiegen: Binnen Tagen waren der Koran und die Prophezeihungen des Nostradamus in New York ausverkauft. Viele Bürger haben nun eine deutlichere Vorstellung davon, was die Apokalypse, was Dschihad und die Scharia ist. Aber die Zehn Gebote, das muss man leider sagen, können immer noch die wenigsten vollständig aufzählen. Obwohl ja zehn wahrhaftig keine große Zahl ist.

Himmel und Hölle

Christoph Marthaler hat sich nun der Sache angenommen und gibt, fern von Manhattan und Afghanistan, ein wenig Nachhilfe im christlichen Betreff. An der Berliner Volksbühne hat er ein Projekt namens „Die Zehn Gebote“ inszeniert, inspiriert von Raffaele Vivianis gleichnamigen „Dekalog in Versen, Prosa und Musik“. Das hätte die reinste Offenbarung werden können, schließlich sind Marthalers Stücke stets voller unglückseliger Figuren, die einen Fehltritt nach dem anderen begehen und doch nie vom rechten Pfad abkommen. Selbst die Missgünstigsten unter ihnen können keine fieseren Waffen als nasse Teebeutel schleudern, und so ist man nach jedem Marthaler-Abend sicher, dass alle, alle da oben auf der Bühne ganz, ganz bestimmt in den Himmel kommen. Tief im Herzen hatte man also am Freitag die Hoffnung, so etwas wie eine Umwegbeschreibung zum Paradies präsentiert zu bekommen. Gab es aber nicht.

Für Kategorien wie Gut und Böse hat sich Christoph Marthaler nicht interessiert. Das Thema Christentum wurde von dem Schweizer Regisseur allein auf seinen Musik- und Unterhaltungswert abgeklopft – wobei zweifelsohne einiges abfällt, aber kein komplexes Stück produziert wird. Entstanden ist eine Nummernrevue, mit großartigen Momenten, doch ohne Subtext. Dabei hatte Raffaele Viviani in seinem – von Marthaler gestrichenen – Prolog so einen schönen knittelversigen Vorschlag gemacht: „Weit und rund / so ist die Welt. / Auch die Menschen – das ist klar – / sind zum Schlachten da, / nicht wahr?“

Der neapolitanische Dichter und Varietékünstler (1888–1950) definierte sich nicht als Literat, sondern als „Sensibler“. Statt einer Handlung wollte er „Ambiente“ entwerfen, was ihn bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu der Einsicht kommen ließ, dass „man nicht dem alten Gerüst des traditionellen Theaters verhaftet bleiben“ könne, da das Leben „nie nur eine Geschichte alleine“ aufführe. Die Schönheit eines Werkes suchte er „in den Einzelheiten am Rande, in der getreuen Abbildung, den Nuancen der Töne, in der Zusammenstellung der Figuren“. Er wird als italienischer Karl Valentin gehandelt, doch in solchen Sätzen kann ihn ebenso gut als frühen neapolitanischen Marthaler lesen.

Nord-Süd-Verbindungen sind also da und beabsichtigt. Anna Viebrock hat eine Bühne entworfen, die Neapel wie Dresden 1989 aussehen lässt, sieht man einmal von dem rechts eingegliederten Kirchensaal ab. Ein Raum mit hohen, abgebröckelten Fassaden, auf denen Schriftzüge nur mehr zu erahnen sind, ein großer rostiger Neonleuchtpfeil, der selten funktioniert. Zu Beginn sitzen die zwölf Schauspieler in der Kapelle und singen im Chor „Zum guten Ende“, auf der Orgel begleitet von Clemens Sienknecht. Da stellt es sich gleich ein, that Marthaler-Feeling.

Überhaupt ist der musikalische Teil des Abends wie immer bei Marthaler großartig. Sienknecht wechselt bald mit der Coolness eines 21-jährigen Vespafahrers ans Piano, von wo aus er einen imposant verklemmten Martin Wuttke begleitet. Im Moment der Ausschweifung wird dieser nicht nur nonchalant von „It’s now or never“ zu „O sole mio“ und zurück wechseln, sondern auch durch einzigartiges Gebissgeigen überzeugen. Das Paar des Abends aber sind Sophie Rois und Matthias Matschke, die gemeinsam „Parole“ tanzen und derart stimmlich kopulieren, dass Brigitte Bardots „Je t’aime“ verdammt blass aussieht. Dass Wuttke das Weihwasser schlürfen mag, in das Rois ihren Schweiß wusch, ist absolut verständlich.

Güter und Götter

Eine Hand voll Stars und ein Dutzend Highlights hat die zweieinhalbstündige Vorstellung; dazwischen plätschert sie streckenweise einfach harmlos dahin, zeigt locker angelehnt an die Zehn Gebote Sketche. Zum ersten Mal seit zehn Jahren wünscht man, der Meister der zerdehnten Augenblicke würde seine Inszenierung straffen. Platz für so hübsche Dialoge wie „Du sollst nicht töten!“ – „Du auch nicht“ wäre ja immer noch. Aber vielleicht schüfe Konzentration Platz für Ambivalenzen, und das perplexe „Wieso?“ auf „Du sollst nicht begehren deines nächsten Gut“ würde neben Lachen auch eine kurzfristige Scham über den Kapitalismus als Staatsreligion produzieren. Den wahrsten Satz sprach sowie eine alte italienische Mama gleich in der ersten Szene: „Der liebe Gott kann froh sein, dass es ihn nicht gibt.“