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Wieder diese Ossis!

Die Wahlforscher lagen am Sonntag im Osten gründlich daneben. Politologen: Ostwähler täuschen bewusst

„So denken die Deutschen“, behauptet die Eigenwerbung eines großen deutschen Meinungsforschungsinstituts. Die Berlinwahl zeigt das Gegenteil: Ein Potenzial von 18 Prozent bescheinigten letzte Umfragen der PDS, der SPD dagegen 35 Prozent. Das Ergebnis zeigt: Die Meinungsforscher lagen gründlich – um ein Viertel – daneben.

Schuld sind wieder mal die Ostdeutschen. „Die neigen viel eher dazu, Meinungsforscher bewusst hinters Licht zu führen“, erklärt der Potsdamer Politologe Jürgen Dittberner. Dieses Versteckspiel sei mit der anderen Biografie zu begründen: „Der normale Ostdeutsche hat eine fein entwickelte Skepsis gegenüber der Autorität der Obrigkeit.“ Wahlforscher würden als deren Vertreter wahrgenommen.

Auch der Dresdner Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach bilanziert dieses Versteckspiel: „Da ruft einer an und fragt: Wen wählen Sie? Es gibt nicht wenige Ostdeutsche, die sich öffentlich lieber nicht zur PDS bekennen, weil sie Angst haben, sich gesellschaftlich zu diskreditieren.“ Das gelte auch für Parteien am rechten Rand – wie das völlig überraschende Ergebnis der DVU in Sachsen-Anhalt vor vier Jahren zeigte. Damals hatte niemand mit einem Einzug der Rechtsextremen ins Parlament gerechnet. Die DVU landete bei 12,8 Prozent.

„Unterzeichnung“ heißt das Phänomen in der Forscherbranche. Zwar versuchen einige Institute dem mit Wahrscheinlichkeitsmodellen zu begegen. „Die beruhen auf den Erfahrungen mit Abweichung aus vorangegangenen Wahlen“, erklärt Donsbach. Dieses Verfahren ist allerdings umstritten. „Die Modelle können nie aktuelle Entwicklungen einbeziehen“, so der Kommunikationswissenschaftler.

In einer solchen sieht der Chemnitzer Politologe Alfons Söllner den PDS-Erfolg. „Die PDS tritt als einzige politische Opposition zum Krieg auf. Das hat ihr mindestens 5 Prozent mehr Stimmen gebracht.“ Gerade weil Pazifismus im Alltag der offiziellen DDR klein geschrieben war, galt er den DDR-Bürgern als besonders hohes Gut. Auch Dittberner sieht hier einen PDS-Trumpf: „Ostdeutsche sind gegenüber Amerika skeptischer, distanzierter als Westdeutsche.“ Einig sind sich die Experten auch in der Rolle der Ostpartei. „Noch nie haben so viele Ostberliner PDS gewählt. Das zeigt deutlich: Es gibt in Deutschland zwei unterschiedliche politische Kulturen“, so Donsbach. „Es ist einfach kein Angebot der anderen Parteien an die ostdeutschen Wähler zu erkennen“, urteilt Söllner. Sein Potsdamer Kollege: „Das Ergebnis zeigt, wie weit wir von einer geistigen deutschen Einheit entfernt sind. Und das ist nicht die Schuld der PDS.“ NICK REIMER

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