: Flucht nach Bellevue
Vor dem dem Landgericht hat der Prozess gegen Viorel D. und Marius R. begonnen. Vorwurf: „Gefangenmeuterei“
Der Sprung über den Zaun versprach den beiden Männern ein schönes Glück: Still und friedlich lag der weite Park vor ihnen, eine warme Sommernacht in Berlin. Ja, so kann ein Leben in Freiheit beginnen: mit Bäumen, die in den Himmel ragen, mit gepflegten Rasenflächen und gestutzten Edelhölzern. Getrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sprangen Viorel D. und Marius R. über den hohen Zaun. Im schützenden Dunkel der Grünanlage verschwanden sie.
45 Minuten später war das Glück zu Ende. Denn der Viorel D. (24) und Marius R. (25) hatten die Videokameras entlang des Zauns nicht gesehen. Sie wussten auch nicht, dass es sich bei dem eleganten Park um Bellevue, den Garten des deutschen Bundespräsidenten handelte. Es dauerte nicht lange, bis die Polizeibeamten die beiden entflohenen Häftlinge der Justizvollzugsanstalt Moabit fanden: Die beiden Rumänen lagen ins Gebüsch gekauert. Sie hatten Laub über ihre Kleidung gehäuft, im gleißenden Strahl der Taschenlampe war den Beamten dennoch der helle Fleck eines Jackenzipfels aufgefallen.
Gestern begann vor dem Landgericht der Prozess gegen Viorel D. und Marius R.. Der Staatsanwalt nennt ihren Ausbruchsversuch von jener Nacht im Juli 2000 „Gefangenenmeuterei“. Viorel D. will sich zu diesem Vorwurf nicht äußern, die langen Haare trägt er zu einem Zopf gebunden, seine Latzhose leuchtet in einem trotzigen Blau. Der weniger rebellisch aussehende Marius R. lässt den Anwalt für sich sprechen. Sein Mandant habe nicht die Absicht gehabt, auszubrechen, sagt der. Erst als er gesehen habe wie leicht alles ging, sei Marius R. seinem Kollegen durch das Loch in der Mauer hinterhergekrochen.
Die Flucht war indes lange geplant, heißt es in der Anklage. Zunächst hätten die beiden Gefangenen mit einem Anstaltsmesser eine Metallverstrebung ihres Doppelstockbettes herausgesägt. Mit der Strebe kratzten sie den Putz einer 60 Zentimeter dicken Außenwand ab und brachen die freigelegten Mauersteine heraus. Dann seilten sich Viorel D. und Marius R. am 24. Juli 2000 gegen 1 Uhr früh an zusammengeknoteten Betttüchern aus dem 3. Geschoss des Blocks D ab. Als sie jedoch über die Gefängnismauer sprangen, wurden sie von einem Wächter gehört.
Dieser feuerte zwei Warnschüsse ab. Als die beiden Häftlinge weiter rannten, schoss der Wärter gezielt. Viorel D. wurde in den Oberschenkel getroffen, setzte seine Flucht in den Park des Bundespräsidialamtes fort.
Dunkle Knopfaugen
Mario R.s dunkle Knopfaugen schnellen jetzt im Gerichtsaal zwischen Dolmetscher und Richter hin und her. Auch sein Kollege versucht aufmerksam der Verhandlung in der fremden Sprache zu folgen. Die Justizverwaltung glaubt nicht, dass die beiden Häftlinge zur organisierten Kriminalität gehören. Zum Zeitpunkt der Tat war der KFZ-Mechaniker Viorel D. in Untersuchungshaft gesessen, der Elektriker Mario R. hatte eine geringe Haftstrafe verbüßt. Der Prozess um ihre Gefangenenmeuterei wird am Freitag fortgesetzt.
KIRSTEN KÜPPERS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen