: Liebeslyrik mit etwas schmutziger Wäsche
Heute beginnen die Berlin-Brandenburgischen Buchwochen, die löblicherweise die Literatur in die Provinz bringen. Denn lebt man im Speckgürtel um Berlin, hat man exakt zwei Möglichkeiten bei der Erkundung seines ländlichen Umfeldes: Entweder man eignet sich einen ausufernden Kulturbegriff an. Oder man besucht Lesungen. Ein Erfahrungsbericht
Wählt man erstere Option, landet man bei der Kleintierausstellung auf dem Bauernmarkt, wo Taubenzüchter Fritz Heitmann aus Leegebruch in der Kategorie Rassegeflügel den ersten Platz belegt. Oder man schlägt sich in die Wälder um Schmachtenhagen und hofft, dass eine Jagdgesellschaft vorüberprescht, die das 10-jährige Jubiläum des örtlichen Reiterhofs fest im Sattel und im strammen Galopp einer forschen Hubertusjagd begeht.
Auch nicht zu verachten ist ein Besuch in Sommerfeld beim großen Seniorenfest der Gemeinden des Amtes Kremmen in der Ulrici-Klinik. Es sorgen für Stimmung: die Märkischen Musikanten und die Helga-Hahnemann-Interpretin Marika Born mit Gesang, Herz und Berliner Schnauze. Zur Begrüßung gibt es für jeden Gast exakt ein Gläschen Wein. Wohl aus medizinischen Gründen.
Wenn man schon mal im Wald ist, kann man aber auch gleich Pilze sammeln. Schließlich ist das anschließende Putzen hochkontemplativ und Essen ja prinzipiell eine irgendwie kulturvolle Angelegenheit. Die Gattin entspannt sich gerne beim Rasenmähen. Auch das ist ein Stück Alltagskultur.
Also dann doch lieber: Lesungen. Sie sind das Einzige, was bleibt in Oberhavel, wenn man nicht allein angewiesen sein will auf Blasmusik beim Herbstfest des Verbands der örtlichen Einzelhändler, die gelegentlichen Auftritte einer Abordnung des mittlerweile schwer staatstragenden Hauptstadt-Kabaretts Die Distel oder den lokalen Film-Palast, dessen vier Leinwände stets von Hollywood blockiert scheinen. So wird die Lesung von Eva Strittmatter locker zum gesellschaftlichen Ereignis. Die meisten sind nur hier, weil Eva die Witwe von Erwin ist. Aber jeder weiß es, und Frau Strittmatter liest trotzdem unbeirrt ihre dann doch recht schönen Natur- und Liebesgedichte. Zum Glück aber bedient sie anschließend die Erwartungen mit etwas schmutziger Wäsche aus dem Familienfundus.
Ich habe 13 Jahre in Berlin gelebt. Nie habe ich während dieser Zeit eine Lesung besucht. In vier Jahren in Brandenburg war ich bei mehr Lesungen, als ich in derselben Zeit Bücher gelesen habe. Ich habe Sonia Mikich in der örtlichen Stadtbibliothek aus ihrer Zeit als ARD-Korrespondentin in Moskau berichten hören. Im großen Sitzungssaal des Rathauses habe ich Stefan Heym gelauscht, weil ich dachte, es könnte das letzte Mal sein. So leise und verknittert sprach er dann auch. Ich schlief ein. Vielleicht aber auch wegen der vielen gesunden Landluft. Schließlich war ich sogar bei der Lesung meines Schwiegervaters und meiner Schwägerin, denn die haben auch schon ein Buch geschrieben.
Lesungen sind einfach zu organisieren und billig. Das müssen sie auch sein, wenn sie hier bei uns stattfinden wollen. Jede andere Hochkultur würde der schmale Etat der städtischen Kulturverwaltung nicht verkraften. Denn der wird zu einem großen Teil von den Kammerkonzerten aufgefressen, die rein zufällig der Sohn einer Kulturamtsmitarbeiterin drei- oder viermal im Jahr organisiert.
Lesung aber ist immer. An einem gerade vergangenen Wochenende las der Bestsellerautor Bernhard Schlink aus seinem neuen Buch „Selbs Mord“ in Oranienburg. Tags zuvor war auch im Schloss Oranienburg die Reihe „Ohne Dir ist es nischt“ fortgesetzt worden: Schauspieler des Potsdamer Hans-Otto-Theaters lasen vor 40 Besuchern Fontanes „Unterm Birnbaum“.
Am selben Tag machte sich in der Lehnitzer Friedrich-Wolf-Gedenkstätte auch noch Daniela Dahn so ihre Gedanken, wer wieso, warum und vor allem wann denn auf Briefmarken porträtiert wird, und stellte darüber hinaus fest, dass im Geschichtsbuch ihrer Tochter die Ermordung Ernst Thälmanns nicht vorkomme. Das alles „mit politischer Spitzfindigkeit, Humor und Intelligenz“, wie die Lokalzeitung in ganzen Sätzen berichtete: „Und wortgewandt.“
Oft ist die Lesung überhaupt die einzige Erinnerung an die kulturelle Vielfalt, die man früher in Berlin genoss. Oder besser: hätte genießen können, hätte man sich denn aufgemacht. Damals blieb man dann doch meistens zu Hause, weil morgen war ja auch noch ein Tag, an dem der Programmkalender dann aber ebenso voll war. Heute muss man sich Monate vorher um Karten für die Tschingis-Aitmatow-Lesung in der Nikolaikirche bemühen, weil man alternativ nicht mal in eine vernünftige Kneipe gehen kann. Lesungen machen einen für einen Moment vergessen, dass man im Speckgürtel im kulturellen Niemandsland lebt: zu nah an Berlin, nicht tief genug in der Provinz mit ihren Traditionen, die mangels Alternative weiter auch von noch nicht komplett Senilen aufrechterhalten werden. Außerdem trifft man immer dieselben Leute. Das sorgt für ein Gefühl von Heimat.
Also Lesungen. Exotisch essen fällt schließlich auch aus, weil der einzige Inder vor zwei Jahren dichtgemacht hat.
THOMAS WINKLER
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