„Das können wir nicht tolerieren“


Interview REINER METZGER
und MATTHIAS URBACH

taz: Herr Trittin, Terroristen drohen den Industriestaaten mit brennenden Flugzeugen, und einzelne Atommeiler werden jahrelang ohne ausreichende Notkühlung betrieben. Fühlen Sie sich eigentlich noch sicher?

Jürgen Trittin: Was heißt schon „sicher“? Auch bei der besten Technik gibt es noch immer einen Unsicherheitsfaktor: den Menschen, der sie bedient. Das zeigt sich jetzt im Atomkraftwerk Philippsburg besonders krass. Aber was wir heute diskutieren, ist für Atomkraftgegner ja nichts Neues. Wir haben schon bei der Genehmigung von Atomkraftwerken darauf hingewiesen, dass der mögliche Absturz eines Passagierflugzeuges nicht berücksichtigt wurde. Deswegen fühle ich mich nicht unsicherer als früher. Wir sind vielmehr in der unangenehmen Situation, Recht behalten zu haben.

Heute sind Sie Minister. Welche Konsequenzen ziehen Sie?

Wir haben die Aufgabe, während der Restlaufzeiten ein Maximum an Sicherheit zu gewährleisten. Dass wir das auch tun, zeigt unser Umgang mit den Vorgängen in Philippsburg und anderswo. Ich stelle fest, dass nun selbst ein CDU-Umweltminister sich einen „sicherheitsorientierten Vollzug“ des Atomgesetzes auf die Fahne schreibt. Einem Grünen wurde das früher immer als Schikane verübelt.

Sie haben vorgeschlagen, im Falle konkreter Hinweise auf einen Terroranschlag Atommeiler abzuschalten.

Richtig, das könnte unter Umständen das Risiko einer Kernschmelze verringern, leider aber nicht die Gefahr einer massiven Freisetzung von Radioaktivität beseitigen. Der Reaktor müsste ein paar Wochen weitergekühlt werden, um eine Kernschmelze wirklich unwahrscheinlich zu machen. Eine Entladung der Brennelemente und ihr Abtransport ist jedenfalls kurzfristig nicht möglich. Anweisen müssten das die Atomaufsichtsbehörden der Länder. Voraussetzung ist die Feststellung einer konkreten Gefahr durch die Innenbehörden.

Nehmen wir einmal an, Innenminister Schily hätte konkrete Hinweise auf einen möglichen Anschlag. Glauben Sie im Ernst, es nimmt ein Politiker auf sich, die Abschaltung von 19 AKWs zu verfügen?

Glauben Sie im Ernst, ein verantwortlich handelnder Politiker würde sich im Falle einer konkreten Bedrohung dem Vorwurf der Fahrlässigkeit aussetzen? Da schätzen Sie den Kollegen Schily völlig falsch ein.

Es könnte ja auch ein Fehlalarm sein.

Wir reden über konkrete Hinweise auf geplante Anschläge. Das ist der Unterschied zum Fehlalarm – und zur Panikmache.

Was würde es für unser Land bedeuten, wenn wie in den USA drei Flugzeuge auf einmal ihr Ziel träfen, nämlich drei deutsche Meiler?

Mit Verlaub: Reicht Ihre Fantasie nicht aus, um diese Frage zu beantworten? Wenn es Ihnen nur um die physikalischen Abläufe in einem solchen Katastrophenfall geht, lässt sich das nur schwer beantworten. Meine Fachleute aus der Reaktorsicherheitskommission sagen jedenfalls, dass sie da noch erheblichen Forschungsbedarf sehen.

Worüber zum Beispiel?

Da gibt es eine Reihe von Fragen: Ob man bei einem Brand größerer Kerosinmengen den Reaktorkern noch kühlen kann, damit er nicht durchschmilzt. Oder wie man die Notstromversorgung in solchen Fällen sichern kann, ob das wie gehabt mit Dieselgeneratoren geht oder andere Lösungen nötig sind. Wir haben dafür neue Studien in Auftrag gegeben.

Klingt langwierig.

So etwas ist nur schwer zu simulieren. Man hat zum Beispiel Kampfjets auf Betonwände geschleudert. Da war aber gar kein Kerosin in den Tanks, sondern Wasser. Andernfalls wären alle Messinstrumente, die hinter der Betonwand aufgebaut waren, durch das Feuer zerstört worden.

Gegen Flugzeugabstürze sind die Meiler recht unterschiedlich gesichert. Nicht überall schützt eine dicke eiförmige Betonhülle den Reaktor.

Ja, aber es kann sein, dass das keine entscheidende Rolle spielt. Vielleicht ist der Kerosinbrand das entscheidende Problem. Auch müssen wir ganz andere Szenarien durchdenken. Wer sagt denn, dass ein Flugzeugabsturz die eigentliche Bedrohung ist? Wie steht es etwa mit dem Angriff eines kleinen Kommandos mit panzerbrechenden Waffen? Dabei muss man seit dem 11. September auch noch berücksichtigen, dass die Terroristen vielleicht sogar ihren eigenen Tod in Kauf nehmen. Das führt zu einem neuen Täterbild.

Wirkt sich die neue Sicherheitslage auf die Castor-Transporte aus?

Auf meine Weisung hat das Bundesamt für Strahlenschutz vor der Transportgenehmigung bei der zuständigen Landesbehörde nachgefragt, ob durch die Anschläge vom 11. 9. bei den Atomtransporten eine neue Sicherheitslage entstanden sei. Die Antwort des niedersächsischen Innenministers, der für die polizeiliche Absicherung der Transporte federführend ist, war eindeutig: Auch die Terroraktionen in den USA böten nach den derzeitigen Gefahrenprognosen keinen Anlass, den Transport der Glaskokillen nach Gorleben in Frage zu stellen. Man bat uns sogar, die Genehmigung nicht länger zu verzögern. Da hatte das Bundesamt für Strahlenschutz null – ich betone null – Spielraum.

Also Business as usual?

Nein. Es stellen sich nach den Anschlägen in den USA Fragen an die Sicherheit der Behälter. Es ist unklar, ob so ein Castor einen längeren Kerosinbrand nach einem Flugzeugabsturz überstehen würde. Die Reaktorsicherheitskommission hat das diskutiert und neue Untersuchungen empfohlen. Ich gehe davon aus, dass die Erkenntnisse aus diesen Gutachten in die Genehmigungsverfahren für die Standortzwischenlager einfließen.

Könnten diese Schwierigkeiten den Atomkonsens gefährden?

Im Gegenteil. Die Situation bestätigt die neue Güterabwägung, die wir in dem Gesetz vorgenommen haben: Das Risiko der Atomkraft ist allenfalls noch für eine befristete Dauer tragbar. Deshalb Befristung der bisher unbefristeten Laufzeiten, Vermeidung unnötiger Transporte, dezentrale Zwischenlagerung plus Verzicht auf die Wiederaufarbeitung.

Einer der Unterzeichner des Atomkonsenses ist Herr Goll, Vorstandschef der Energie Baden-Württemberg und damit Chef der Betreiber des Skandal-AKWs Philippsburg II. Erfüllt Herr Goll noch die Mindestkriterien für einen Konsenspartner?

Darum geht es nicht. Die Vorgänge in Philippsburg offenbaren eklatante Mängel an Sicherheitskultur und Sicherheitsmanagement. Herr Goll muss nachweisen, dass die seinem Unternehmen im Wesentlichen gehörende Anlage in Philippsburg sicher betrieben werden kann. Er muss die zu Tage getretenen Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betreibers vollständig ausräumen. Soweit dies nicht geschieht, stehen der Atomaufsicht ausreichende Handlungsinstrumente zur Verfügung – bis hin zum Widerruf der Genehmigung.

Die Zuverlässigkeit des einen oder anderen AKW-Betreibers wurde doch schon öfter in Frage gestellt – bisher stets ohne schmerzliche Konsequenzen.

Die jetzigen Vorfälle haben eine besondere Qualität. Hier ist nicht bloß mal eine Armatur ausgefallen. Die Verantwortlichen für die Sicherheit haben schlicht gesagt: „Was im Betriebshandbuch steht, ist für uns nur ein Richtwert.“ Das können wir nicht tolerieren. Die Sicherheitsbestimmungen sind Punkt für Punkt zu beachten und nicht abzuwägen. Das ist ganz simpel.

Wie konnten denn die TÜV-Prüfer bei den Revisionen diese Mängel an so wichtigen Teilen der Notabschaltung übersehen?

Bei 17 Revisionen war 16-mal nicht genügend Flüssigkeit in den Notkühlbehältern. Das hat der TÜV jedes Mal übersehen. Das wirft massive Fragen auf. Deshalb habe ich die Atomaufsichtsbehörden der Länder aufgefordert, das Qualitätsmanagement, insbesondere hinsichtlich der Arbeit der Sachverständigen und des Zusammenspiels von Sachverständigen und Behörde, zu überprüfen.

Wird das Konsequenzen für die Begutachtung haben?

Die TÜV-Gutachter handeln ja im Auftrag der Betreiber. Sollten sich gravierende Fehler herausstellen, wird die Atomaufsicht überlegen müssen, ob sie andere, unabhängigere Gutachter wählt.

Die Atomgesetznovelle soll im Dezember verabschiedet werden, und nun häufen sich Hinweise auf neue Risiken. Müssen Sie den Ausstieg nun nicht nachbessern?

Ich finde es bemerkenswert, dass die Kritik von konservativer Seite am Atomausstieg verstummt ist. Der Bundesrat hat erst vor einer Woche beschlossen, die Atomgesetznovelle sei „nicht zustimmungspflichtig“ – dabei wollten die unionsregierten Länder das Gesetz dort doch angeblich blockieren. Alle, die in der Novelle einen Angriff auf den Industriestandort Deutschland gesehen haben, sind merklich stiller geworden. Wahrscheinlich weil auch ihnen dämmert, dass wir mit der Novelle genau den richtigen Weg gehen.

Wir fragen noch mal: Sollte man nicht gerade deshalb nachbessern?

Nein. Die Novelle bietet den Weg zum schnellsten Ausstieg aus der Atomtechnologie von allen Industrieländern. Wenn Anlagen unterschiedlicher Sicherheit früher stillgelegt werden sollen, bietet gerade eine verabschiedete, nicht eine aufgehaltene Atomgesetznovelle die Instrumente, das auch zu erreichen. Manche Umweltverbände fordern ja jetzt den Sofortausstieg und den Verzicht auf die Novelle. Wer so vorgeht, wird am Ende das bekommen, was er heute schon hat: die unbefristete Betriebserlaubnis bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.