: Sie verhöhnen ihre Stammwähler
betr.: „Regierungsunfähige Anhänger“ (Wenn die Grünen bei der Bundestagswahl scheitern, sind auch ihre Sympathisanten schuld) von Joachim Raschke, taz vom 25. 10. 01
Wenn ich den Artikel recht verstanden habe, sagt er folgendes: Wer nicht Schily wählt, wählt Schill. Dazu habe ich dann doch ein paar Anmerkungen.
In die Amtszeit von Rot-Grün fällt die fortschreitende Entdemokratisierung der Gesellschaft: „Mediendemokratie“, „Konsensdemokratie“, Enteignung des öffentlichen Raums, Aushebelung des Demonstrationsrechts und – der neueste Schrei – die Abschaffung des informellen Selbstbestimmungsrechts und des Briefgeheimnisses. In einer Zeit, in der Rot-Grün sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierung in Berlin (noch) stellt, laufen Bürger, die gegen die Kriegspolitik, gegen die NPD oder den Abbau der Grundrechte demonstrieren, ständig Gefahr, auf den teilweise gespenstischen Demonstrationen willkürlich festgenommen zu werden. Damit Schilys Datensammlung endlich vervollständigt werden kann und auch der letzte kritsche Geist erfasst wird.
[...] Die Grünen tragen Mitschuld an der Militarisierung der Gesellschaft, die im uneingeschränkt „solidarischen“ Afghanistan-Krieg ihren neuen Höhepunkt findet. Auch Grüne fordern seit ein paar Jahren zunehmend, dass die Bundeswehr nun eine Interventionsarmee werden soll und outen die Partei als Nicht-mehr-Pazifisten. Die Grünen sind nicht mehr das „kleinere Übel“, sondern Propagandisten einer Politik, die sich vom Grundgesetz immer weiter verabschiedet. Sie verhöhnen ihre Stammwähler, wenn sie meinen, dass diese einfach zu doof oder zu bockig sind, um den „Wertewandel“ mitzuvollziehen. Ein großer Teil der linksliberalen Bevölkerung will aber einen ganz anderen Wertewandel: Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Friedenspolitik. Was sich zu Recht bei den letzten Wahlen gezeigt hat.
Neben Rechten stimmen Grün- und Nichtwähler für die Schill- und Schilysierung der Gesellschaft, nicht die, die verzweifelt nach Alternativen suchen. R.H.,Berlin
Der bisher von mir hoch geschätzte, meistens solidarische Kritiker der Grünen, Joachim Raschke, der in den 90er-Jahren das einzige wissenschaftliche Standardwerk über diese Partei veröffentlicht hat, wo ist er nur gelandet? Er scheint selbst so in die Tücke seines Objekts eingetaucht zu sein, dass ihm jegliche wissenschaftliche und analytische Distanz verloren gegangen zu sein scheint. Wie ist sonst dieses Stück Realsatire zu erklären?
Wenn bei Wahlen irgendwas nicht klappt, klar, dann ist immer das Volk schuld. Wählen wir uns ein Neues! Die Mehrheit der grünen Bundestagsfraktion versucht das ja schon lange. Sie wird nicht weit damit kommen, denn die Segmentierung der Gesellschaft ist am grünennahen Spektrum natürlich nicht vorübergegangen. In dieser Situation solche Predigten ans Publikum zu richten, wie Raschke, ist so hilflos wie alle Reaktionen von WahlverliererInnen. Denn zu ändern ist es dadurch nicht.
Wenn Raschke den Eindruck erwecken will, dass Regierungsfähigkeit und Kriegsführungsfähigkeit identisch sind, dann hat er die Verfassung dieser Republik gründlich missverstanden. In der Tat würden dann nicht mehr viele Grün-WählerInnen übrig bleiben. Aber, das ist das Tröstliche, das ist dann nicht nur ein Problem der Grünen. Wer die Nasenspitze des Kanzlers genau ansieht, erkennt, dass der das auch schon herausgefunden hat.
MARTIN BÖTTGER, Bonn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen