: Vom Blauen Wunder
■ „Im Zentrum: Ernst Ludwig Kirchner“: Erste Ausstellung expressionistischer Kunst einer Hamburger Privatsammlung
Dass zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Hamburg hochkarätig Kunst gesammelt wurde, zeigte dieses Frühjahr eine Ausstellung in der Kunsthalle. Und schon damals war zu ahnen, dass auch heute noch mehr in hiesigen Villen hängen würde, als mancher vermutet. Jetzt zeigt die Kunsthalle erstmals eine Privatsammlung expressionistischer Kunst, die zwar vorwiegend grafische Arbeiten umfasst, aber immerhin siebzig Werke allein von Ernst Ludwig Kirchner.
Zum Auftakt der Ausstellung zeigen fotografische Nahaufnahmen Details der Kunst in der Wohnumgebung des Sammlers Werner Blohm. Doch jenseits von Zimmerpalme und Ledersofa ermöglicht die Museumspräsentation um die zentralen Arbeiten von Kirchner den Vergleich künstlerischer Auffassungen im Kreise der „Brücke“-Künstler: Egal, ob die Zeitgenossen zwischen 1908 und dem Zweiten Weltkrieg ihre Bilder auf der Farbe, dem Strich oder dem Bildthema aufbauen: Stets verweigert Kirchner am stärksten die geschlossene Form. Sein Bildaufbau ist am nervösesten und von hektischer Explosivität, ob es sich nun um Aktskizzen, Großstadtszenen oder Bergwiesen handelt.
Im ersten der sechs Räume der Ausstellung ist sogar ein direkter akademischer Vergleich zwischen Künstlersichtweisen anhand zweier „Viertelstundenakte“ möglich: In exakt derselben Situation zeichnen Kirchner und Erich Heckel die neunjährige Fränzi als Modell in Kirchners Dresdner Atelier. Dabei legt Heckel mit dickem Bleistift deutlich mehr Gewicht auf die flächig aufgebrochene Raumsituation, während Kirchner in schnellem Tuschfederstrich die Augen des Kindes betont.
„Badende an der Alster“ und „Badende an der Elbe“ verwandeln die Landschaft vor 1914 in ein subjektives Arkadien, und dass die „Brücke über dem grünen Fluss“ blau ist, ist weniger eine expressive Farbwahl, als dem „Blauen Wunder“ geschuldet, dem üblichen Namen der Brücke im Dresdner Vorort. Doch der Krieg im Großen und Nervenzusammenbrüche im Kleinen treiben dem Expressionismus schon bald das Idyllische aus und lassen in der zerrissenen Bildsprache das Apokalyptische durchscheinen.
Den geschärften Blick auf die sozialen und politischen Zustände offenbaren Bilder von Ludwig Meidner, Conrad Felixmüller, Käthe Kollwitz, Otto Dix und Ernst Barlach. Kirchner begeht isoliert und diffamiert 1938 Selbstmord. Eine schöne Welt scheint nur noch in sehnsüchtiger Erinnerung möglich: Max Beckmann malt im Ams-terdamer Exil das Bild „Schwimmbad Cap Martin“. Der gemalte Traum von der Cote d'Azur hängt am Ende des Ausstellungsrundgangs – auch deshalb, weil der Sammler es schon vor zwei Jahren der Kunsthalle geschenkt hat.
Hajo Schiff
Im Zentrum: Ernst Ludwig Kirchner – Eine Hamburger Privatsammlung: Hamburger Kunsthalle, bis 13.1. 2002; Katalog mit Abbildungen aller Werke und einem Interview mit dem Sammler: 45 Mark
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