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Gute Demokraten und schlechte Europäer

Rechtzeitig zur Debatte über eine Verfassung der Europäischen Union betrachtet Hartmut Kaelble kritisch Europas „Wege zur Demokratie“

Hartmut Kaelbles kleine Studie zur großen Geschichte der europäischen Demokratie kommt zur rechten Zeit. Denn Europa ist gerade wieder im Begriff, ein neues Kapitel dieser Geschichte zu schreiben.

Die Europäische Union bereitet einen Verfassungskonvent vor, der bis 2004 das erste Grundgesetz für Europa entwerfen soll. Wie viel Demokratie die EU dabei wagt, wird vor allem davon abhängen, wie viele demokratische Gemeinsamkeiten die Europäer bisher entwickelt haben. Insofern bietet Kaelbles historische Bestandsaufnahme einen längst überfälligen Beitrag zur aktuellen europäischen Verfassungsdebatte.

Hartmut Kaelble ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein fachliches Interesse gilt der Geschichte, sein Erkenntnisinteresse Europa. Und beides verbindet er in seinem vortrefflichen neuen Buch. „Wege zur Demokratie: Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union“, so heißt sein anspruchsvoller Versuch, das historische Wissen über 200 Jahre Demokratie in Europa auf gut 200 Seiten zu bündeln.

In Europa gab es zwei Demokratisierungen, stellt Kaelble einleitend fest, eine nationale und eine europäische. Dementsprechend ist die Untersuchung zweigeteilt. Im etwas kürzeren ersten Teil zeichnet Kaelble die Durchsetzung der modernen Demokratie in den europäischen Nationalstaaten nach. Die Darstellung orientiert sich an fünf historischen Wendepunkten: anden Revolutionen von 1789 und 1848, an den Nachkriegsepochen ab 1918 und 1945 sowie an dem halbrevolutionären Umbruch am Ende des Kalten Krieges in den Jahren 1989–1991.

Modell der Demokratie

Markieren diese Wendepunkte einen gemeinsamen europäischen Weg zur Demokratie? Oder waren sie nur Ausgangspunkt für viele nationale Sonderwege? Diese Fragen durchziehen Kaelbles Analyse von zwei Jahrhunderten Demokratiegeschichte. Dabei verzichtet er auf die Darstellung historischer Details, sondern konzentriert sich auf die langen Linien der Demokratisierung Europas und deren Interpretation durch Historiker und Sozialwissenschaftler. Kaelble wägt stets das Pro und Kontra der wissenschaftlichen Debatte ab, kommt aber immer zu dem gleichen Ergebnis: Keiner der historischen Demokratisierungsschübe fand direkt unter europäischen Vorzeichen statt, doch waren alle zumindest indirekt auch gesamteuropäische Ereignisse. Demnach gibt es also eine gemeinsame europäische Geschichte der Demokratie. Und damit, so Kaelble, existiere auch ein „gemeinsames Modell, dem die Demokratisierung der EU folgen könnte“.

Um diese Demokratisierung der EU geht es im zweiten Teil des Buchs. Hier skizziert Kaelble die „Epochen der Demokratisierung und des Demokratiedefizits“ bei der Integration Europas seit 1950. Fünf Wege der Demokratisierung werden von ihm in den Vordergrund gerückt: die Rechte des Europäischen Parlaments, die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Unionsbürgerschaft sowie die Identitifizierung der Bürger mit der EU.

Kaelbles Bilanz der Demokratisierung nach fünfzig Jahren europäischer Einigung ist so offen wie die Frage, ob eine Flasche halb voll oder halb leer ist. Sie ist halb leer, weil lange Zeit überhaupt nicht an eine Demokratisierung europäischer Institutionen gedacht wurde. Während der ersten drei Jahrzehnte des Aufbaus der EG sahen die Nationalstaaten keinen Grund zum Experiment mit einer europäischen Demokratie. Vielmehr befürchteten sie, ihr „Monopol der demokratischen Kontrolle der EWG und EG“ zu verlieren. Erst die zunehmende Machtkonzentration in Brüssel hat den Nationalstaaten allmählich ein Demokratiedefizit bewusst werden lassen.

Pflichtlektüre für Konvent

Halb voll ist die Flasche indes, weil die Demokratisierung der EU seither durchaus „nicht stehen geblieben oder gar unterblieben ist“. Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten erkennt Kaelble Fortschritte auf allen fünf Wegen der Demokratisierung. Dabei betont er, dass die Demokratie sich auf EU-Ebene anders entwickelt als in den Nationalstaaten. Europas Wege zur Demokratie sind mitunter verschlungen. Jede Abweichung von nationalen Vorbildern dürfe daher nicht sofort als Demokratiedefizit gewertet werden. Dennoch bleibt Kaelbles Gesamturteil über den Stand der Demokratisierung zurückhaltend: „Sie kam schrittweise voran, wenn auch nicht mehr.“

Wer sich von dem Buch konkrete Vorschläge zur Lösung des europäischen Demokratieproblems erhofft, der wird enttäuscht. Fündig wird jedoch, wer grundlegende historische Zusammenhänge erkennen will. Zum Beispiel den Zusammenhang zwischen dem langfristigen Demokratieerfolg der Nationalstaaten und dem Demokratiedefizit der Europäischen Union. Hier lautet die Erkenntnis, dass der nationale Demokratiedurchbruch die Voraussetzung für das supranationale Demokratiedefizit geschaffen hat. Mit anderen Worten: Gerade der Erfolg der nationalstaatlichen Demokratien hat die Demokratisierung auf europäischer Ebene nach 1950 lange Zeit behindert. Kaelble nennt dies eine „Symbiose, die erst einmal nüchtern zu konstatieren“ sei. Etwas weniger nüchtern könnte man auch von dem Dilemma sprechen, dass ein guter Demokrat dazu tendiert, ein schlechter Europäer zu sein.

So weit geht ein nüchterner Historiker wie Hartmut Kaelble natürlich nicht. Doch in dieser Nüchternheit liegt ein besonderer Vorzug des Buchs. Es provoziert wenig Widerspruch, dafür inspiriert es umso mehr zum Nachdenken über die demokratische Zukunft Europas. Und genau dies werden die künftigen Väter und Mütter einer europäischen Verfassung gebrauchen können. Kaelbles „Wege zur Demokratie“ ist beste historische Grundlagenforschung, die dem Konvent für eine europäische Verfassung zur Pflichtlektüre aufgegeben sein sollte.

CARSTEN SCHYMIK

Hartmut Kaelble: „Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union“. DVA, Stuttgart/München 2001, 232 Seiten, 36 DM (18,90 €)

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