Ritt durch die Hölle

■ Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin in der Glocke

„Wie geht das überhaupt mit nur zehn Fingern?“, fragte ein Zuhörer, und ein anderer sagte vor zwei Jahren beim Konzert bei Radio Bremen: „Das sind die geklonten Hände von Horowitz.“ Die entsprechende Begeisterung über eine derartige Virtuosität löste der kanadische Pianist Marc-André Hamelin nun erneut in einem Konzert in der Glocke aus.

Als legitimer Nachfolger des – nach Artur Rubinstein – größten Virtuosen in diesem Jahrhundert, Vladimir Horowitz, spielt er grundsätzlich ein sozusagen unspielbares Repertoire, beteuert aber in Interviews immer wieder, dass es ihm um die Musik und nicht die Virtuosität gehe.

Wie dem auch sei, es war immerhin auffällig, wie er in diesem Konzert ein eigenes Werk mit dem Titel „con intimissimo sentimento“ spielte, das in sieben Sätzen die erwartete Virtuosität vorenthielt und ein seichtes, spätromanisches Zaubergeklimper präsentierte, so als wollte er sagen: „Ich will doch gar nicht so virtuos sein!“ Da hätte man aber doch gerne lieber lyrische Stücke großer Komponisten gehört. Gleichwohl beherrscht er auch dieses Genre, wie an der „Arietta“ aus der großen Sonate op. 111 von Ludwig van Beethoven wunderbar zu hören war.

Natürlich spielte er wieder ein Werk des französischen Sonderlings und Chopin-Freundes Charles Valentin Alkan (1813-1888), von dem der große, seinerseits monumentale Pianist Ferruccio Busoni gesagt hatte, dessen Stücke seien „die größten Errungenschaften der Klaviermusik seit Liszt.“ Diesmal erklang die „Sinfonie für Klavier solo op. 39“ aus dem Jahr 1857, deren Finale der amerikanische Pianist Raymond Lewenthal als „Ritt durch die Hölle“ bezeichnet hat. Es ist faszinierend, wie Hamelin riesige Architekturen bei glasklarer Transparenz baut, scheinbar ohne jede sichtbare Anstrengung: Er steht danach auf, als komme er vom Frühstück. Nur auf seiner Stirn glänzt es ein kleines bisschen, während andere Pianisten bei vergleichbarer Leistung geradewegs aus der Sauna zu kommen scheinen. Eingangs hatte Hamelin Ferruccio Busonis Bearbeitung der berühmten d-Moll-Chaconne von Bach gespielt, das Stück war allerdings weniger eine Bearbeitung als eine Interpretation. Der vierzigjährige Ausnahmepianist überzeugte mit eindrucksvollen Wechseln von meditativer Besinnlichkeit und unglaublich stringenten Crescendo-Aufbauten. Klaviergenuss pur: Ovationen und drei Zugaben.

Ute Schalz-Laurenze