: Mär vom fehlenden Glauben
Berlin im Märchenfieber: Märchentage, der Brüder-Grimm-Preis und die tragische Geschichte einer Schweden-Fichte. Nach einer langen Odysee steht nun vor der Gedächtniskirche ein Weihnachtsbaum
von ADRIENNE WOLTERSDORF
Es war einmal eine große arme Stadt, die sich nichts sehnlicher wünschte, als einen saftig grünen Weihnachtsbaum aufzustellen. Denn das Fest der Liebe sollte bald gefeiert werden. Doch die Menschen der Stadt hatten furchtbare Angst. Alle Jahre wider, wie ein Fluch, ereignete sich in ihrer Stadt das immer gleiche Drama. „Gerupfter Zahnstocher“ zeterten dann die erbosten Publizisten, die sehr mächtig sind im Reich der Meinungsbildung und machten Jahr um Jahr die armen Weihnachtsbäume schlecht.
Ein Prachtbaum mit den Traummaßen 22-5 musste also her! Die Stadt entsandte Kenner in die entlegensten Weiten des schwedischen Waldlandes und ließ sie nach dem Besten der Bäume suchen. Kaum ward dieser gefunden und gefällt, kam aus dem schwedischen Ort Säffle auch schon die Hiobsbotschaft: der Baum konnte nicht kommen. Der Baum war eine Mogelpackung. Statt erklärter frischer 80 Jahre, hatte die hinterlistige Fichte schon 124 Jahre auf dem Stamm. Steif wie eine Salzstange zerbarsten ihre dürren Äste. Zur Strafe ließen die Getäuschten den Nadelbaum kurzerhand zerschreddern.
„Die Säffler weinten. Der Bürgermeister Halvar Petterson war stinksauer. Er befahl seinen Bürgern einen neuen Baum zu fällen“, berichteten die Chronisten einer berüchtigten Stadtpostille. Also zogen die braven Säffler wieder los und durchstreiften sechs Stunden lang den Wärmlandwald. Bis sie einen Baum fanden, der der eitlen Stadt im fernen Deutschland würdig war.
Hurtig wurde die Prachtfichte also auf den Weg geschickt. Viele Tage reiste sie mit dem Zug, der Fähre, wieder mit dem Zug. Dann, erneut eine Hiobsbotschaft. Banausen hatten den Weihnachtsbaum falsch herum mit dem Stamm nach vorne auf den Zug geladen. Äste brachen ab, ein Schicksalsschlag.
Endlich, um 5:35 eines kalten Wintermorgens konnte das Immergrün mit einem Kran auf einen Tieflader gehievt werden. Die Nervosität stieg ins Unermessliche. Der Weihnachtsmarktchef höchstpersönlich eilte zum Güterbahnhof um die Ladung zu begutachten. Der Chef der Transportfirma wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Ihn hatte die Baum-Odyssee bereits ein Vermögen von rund 20.000 Mark gekostet. Er freute sich zunächst, denn die Nadeln schienen „wirklich sehr saftig grün zu sein“. Doch dann, die Enttäuschung. Die eilig herbeigeschafften Prothesenäste passten farblich nicht zur Tanne.
Bis das Nadelgeschenk schließlich seinen Bestimmungsort im Herzen der Stadt erreichen konnte, musste es noch von schwedischen „Baum-Bodyguards“ mit Äxten bewacht werden. Denn in seiner dunklen Heimat gabt es einen düsteren Brauch, nachdem schon mal die Weihnachtsbäume vor der heiligen Nacht angezündelt werden. Das hätte die große Stadt womöglich um den Verstand gebracht.
Doch alles ging gut. Um 11.30 wurde am Dienstag vor einer staunenden Schar von Passanten, die Schwedenfichte in den Boden vor der Gedächtniskirche gelassen. Die Reporter waren ganz aufgeregt. Ei, welche Ernüchterung bemächtige sich da der Bürger. Die Tanne stand so müde in ihrem Erdloch, das manche das Erbarmen packte. „Sie ist schlank“ sagte gnädig die Pfarrerin der Gedächtniskirche. Es mache ja keinen Sinn, mahnte sie ihre enttäuschten Schäfchen, dass „man immer rumnöle“. „Das wird noch“ riefen die Organisatoren der Menge zu. Die hängenden Äste richten sich noch auf. Die Menge lief schweigend davon. Manche munkelten, das Baum-Pech habe mit dem fehlenden Glauben zu tun. Die Menschen hätten einfach vergessen, warum sie im November Tannen aufstellten. Tja, und wenn sie sich nicht bald erinnern, glauben sie noch lange, dass geschmückte Tannen gut für den Umsatz auf dem Weihanchtsmarkt sind.
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