230 Quadratmeter Deutschland

Was dem einen seine Quarkwand, ist dem anderen die Straßenbahnbar, und Gina, die schrille Oma, feiert den US-Kitsch auf höchstem Niveau. Mit der Pantoffel-Tour ergeben sich seltsame Einblicke in Berliner Privatwohnungen

Jährlich besuchen rund fünf Millionen Touristen Berlin, klappern Sehenswürdigkeiten, Museen und Flohmärkte ab, haben vieles gesehen, in der Regel aber eines nicht kennen gelernt: den ganz normalen Berliner. Eine clevere Idee schafft jetzt Abhilfe. Die etwas schlapp titulierte „Pantoffel-Tour“ verspricht Berlins privateste Stadtrundfahrt: Wildfremde Menschen schauen sich in den Wohnungen anderer um, dürfen ihrem Voyeurismus hemmungslos frönen. Die Inspiration für diese bislang noch einmalige Stadterkundung der privaten Art kam Kerstin Kliemt beim Renovieren der eigenen Wohnung, als im Schlafzimmer unter alten Farbschichten ein Ölwandbild zu Tage trat, das den Eingang in einen paradiesischen Garten zeigt.

„Nachbarn, Freunde und Bekannte wollten die Entdeckung und dabei natürlich gleich die ganze Wohnung sehen.“ Und: „Wer eine Stadt wirklich kennen lernen will, muss in ihr Innenleben eintauchen.“

Abgeschliffene Dielen, ein selbst gebauter Kachelofen in der Küche, die Badewanne trohnt auf einem Podest und wird von einem Frauenakt à la Michelangelo umrahmt, im Wohnzimmer ein Kamin der Marke Eigenbau, ein mühselig mit Dampfdruck und Zahnbürste freigelegter Stuck – die erste besichtigte Privatwohnung in einem Gründerzeitbau in Berlin-Karlshorst ist auffallend unspektakulär. Doch für Helga Schönfeld hat sich der Traum vom „Gesamtkunstwerk Wohnung“ erfüllt. Speziell ist der Anstrich ihrer Wände, eine althergebrachte Mixtur aus Quark, Marmormehl, Speiseöl und Borax. Beim Verlassen des Hauses springt an einer Wohnungstür eine Treppe tiefer ein gelbes Warndreieck ins Auge: „Unbefugten ist der Zutritt verboten“.

In Berlin-Treptow wartet schon „Gina, die schrille Oma“, die ihre Gäste in hautenger Glitzerjeans und bauchfreiem Top empfängt. Das 91 Quadratmeter große Reich der 51-Jährigen ist zweigeteilt, Schlaf- und Wohnzimmer gibt es je zweimal, mal deutsch, mal amerikanisch eingerichtet.

Die gebürtige Berlinerin lebte bis vor vier Jahren in den Staaten, deshalb die US-Flagge im Flur, die Couch aus Virginia, ein elektrisch lodernder Kamin und kleine Wasserfontänen, die aus den Mäulern von Delfinen sprudeln. Gina Herkt, die die Teilnehmer der Pantoffel-Tour stets mit „Herrschaften“ anspricht, zelebriert ihren Hang zum Kitsch auf höchstem Niveau.

Überall Rüschen, Spitzen und Nippes. Der Duschvorhang in Altrosa sieht wie ein Brautschleier aus. Ein Bett ist von unten beleuchtet. Schrankwand und Kommode sind aus dunklem Holz. „Was ist das bloß für ein Stil?“, fragt eine Dame um die 50 ihre Tochter. „Gar keiner“, erwidert die, „so möchte ich jedenfalls nicht wohnen.“ Muss sie ja auch nicht.

So wie Ilse Kusch würden natürlich alle gern wohnen, ach was: residieren! Denn die 69-Jährige hat für sich allein am Wittenbergplatz 230 sonnendurchflutete Quadratmeter zur Verfügung, blickt vis-à-vis aufs KaDeWe, putzt die elf Doppelfenster natürlich nicht selbst, muss dafür aber immer 32 Schritte bis in die Küche zurücklegen. „So bleibt man schlank“, witzelt die verwitwete Hausherrin, die ihr Reich spärlich möbliert hat. Höhepunkt ist ein Deckengemälde im Wohnraum mit herrlichem Tafelparkett. Hoch oben fliegen Schwalben durch weiß-blauen Himmel, der von Jugendstilornamenten umrahmt ist.

An der Tür einer Hinterhofwohnung in Berlin-Wedding sagt ein Schild eigentlich schon alles: „Hier wohnt ein Experte“. Die dunkle Wohnung von Joachim Sube gleicht einem kleinen Museum. Er trägt Jogginghosen, seine alte Dienstjacke, eine originale Schaffnermütze, um dem Hals hängt ein so genannter Galoppwechsler, ein Wechselgerät für Münzen von anno dazumal.

Seit er in den Sechzigerjahren Straßenbahn fuhr, lässt ihn das umweltfreundliche Gefährt nicht mehr los. Überall Schilder, Fahrpläne, Modelle von Straßenbahnen in der Schrankwand, Videos von Straßenbahnfahrten – der Rentner hat schon „zwei Drittel der Welt“ gesehen, immer nur wegen der Tram, die es ja in fast jedem Land gibt. In Berlin, noch von Pferden gezogen, übrigens seit 1865.

Als Prunkstück hat Joachim Sube den Führerstand einer alten Straßenbahn im Wohnzimmer zur Bar umfunktioniert. Ob er keine Angst vor dem Verlust der Privatsphäre habe, wenn er fremde Menschen durch seine Wohnung führe, will ein besorgter Tourteilnehmer wissen. „Wieso denn“, fragt Sube zurück, „warum soll ich nicht zeigen, was ich angesammelt habe? Die halbe Stunde! Und außerdem wird man dadurch auch ein bisschen berühmt.“ ANDREAS HERGETH

Informationen und Buchung (die besuchten Wohnungen variieren): Kliemt-Konzept-Berlin, Tel.: 62 72 31 50; www.kliemt-konzept-berlin.de