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Vertraute Lynchjustiz

Mit „Seriously“ hat Luc Dunberry in der Schaubühne das erste Stück für Schauspieler und Tänzer entwickelt

Die Wand nimmt längst nicht jeden. Manchmal öffnet sich ein Spalt und schluckt die draußen Rumtapsenden weg. Einfach so. Aber nicht immer. Ob man bei Freud nachlesen könnte, was das zu bedeuten hat? Später tauchen die Verschluckten wieder auf. Sie schieben sich über die obere Kante der Wand, tröpfeln und rutschen daran herab wie Honig. Die Bilder entwickeln sich jetzt mit Verzögerung. Ganz unten in der Wand sind Schuhputzbürsten, die sich auf Knopfdruck drehen. Michaela Steiger poliert ihre Schuhe. Grayson Millwood legt seinen Kopf an die Bürsten, bis er schlackert wie ein leerer Sack. Unterdrücktes Kichern kriecht vom Zuschauerraum auf die Bühne. „Das ist doch schrecklich“, sagt Michaela Steiger plötzlich und schaltet die Maschine ab. Darf man so grausame Witze machen? Irgendjemand schaltet sie wieder an. Wie ein Tischtennisball hüpft Millwoods Kopf.

„Seriously“ ist ein Stück von Luc Dunberry, an der Schaubühne entwickelt für sechs Schauspieler und zwei Tänzer. Dunberry stammt aus Kanada und hat, seit er bei Sasha Waltz engagiert ist, vier eigene Choreographien herausgebracht. Sie sind alle durchzogen von verzweifelten, erbarmungswürdigen, verlassenen Körpern. Emotionaler Versorgungsnotstand.

Aber mehr und mehr schält sich daneben ein Humor heraus, der die fetten schwarzen Kröten der Depression mitten im Sprung in etwas anderes verwandelt. Oder sie zumindest glauben lässt, sie wären etwas anderes, leichtes, fliegendes vielleicht. Bis zur nächsten harten Landung.

Tief sitzt die Angst vor dem Versagen. Jede Zeit hat ihre spezifischen Bilder dafür und in „Seriously“ werden sie geliefert von der überreizten Stimmung einer medienversessenen Gesellschaft. Jedes Mikrophon wird zum phallischen Instrument der Vergewaltigung, Kabel sind dazu da, sich zu strangulieren.

Und es gibt Wettbewerbe, jede Menge, genau wie in dieser nach Ranking-Listen und messbarer Leistung verrückten Zeit. Es geht darum, die Intensität des Erlebens zu steigern. Wer rammt sich die Hände am tiefsten in den Hals und bringt das schaurigsten Würgen hervor? Wer hält sich die Nase am längsten zu und liefert die schönsten Berichte von der Schwelle des Jenseits? Einmal wird eine Schauspielerin von den anderen gelyncht, mit Kleidern beworfen, die plötzlich überall herum liegen. Man weiß nicht, woher der Hass kommt, aber man wundert sich auch nicht, so vertraut ist sein Bild.

Vielleicht ist das der Vorteil des Tanztheaters gegenüber dem Schauspiel: beobachten und beschreiben zu können und nicht immer schon verstehen und erklären zu müssen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Seriously“, Schaubühne am Lehniner Platz, Charlottenburg

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