: „Da kommt der Schelmenroman ins Spiel“
„Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“, so heißt das zweite Buch des Schriftstellers Frank Schulz. Es wird viel gelobt – nur ist leider der Verlag, in dem es erscheint, gerade Pleite gegangen. Der Autor über sein Verhältnis zum Haffmans-Verleger und den Sprung in der Schüssel seiner Hauptfigur
Interview: KLAUS MODICK
taz: Vor einigen Jahren haben wir beide in Klagenfurt sehr gelacht, als wir uns Beiträge für ein imaginäres „Buch der Haffmans-Anekdoten“ ausdachten. Inzwischen ist, zehn Jahre nach dem Debüt „Kolks blonde Bräute“, Ihr zweiter Roman im Haffmans Verlag erschienen – und Haffmans macht Konkurs. Ist Ihnen immer noch zum Lachen zumute?
Frank Schulz: Nur über meine Leiche. Aber im Ernst, erstens hat der Verlag meinen Vorschuss voll gezahlt und zweitens das dicke Manuskript von „Morbus fonticuli“ wunderschön verlegt. Nur Gerd Haffmans hatte den Mut dazu, und dafür werd’ ich ihm ewig dankbar sein. Das bedeutet ja nicht, ihm in allen Belangen uneingeschränkte Solidarität, ich betone: uneingeschränkte Solidarität, einzuräumen. Jedenfalls ziehe ich meinen Hut vor einem Mann, der sich, ohne mit der Wimper zu zucken, nur ein paar Stunden nach der Hiobsbotschaft für seinen ziemlich unbekannten Autor ins Zeug legt, indem er ihn auf dessen Buchpremiere mit einer hinreißenden Passagenlesung unterstützt!
Wenn man den Klappentext des Romans liest, klingt das alles nach einer drolligen Szene-Farce.
Klingt das so? Der Klappentext umschreibt eigentlich nur den Ausgangspunkt: Muftis, des Icherzählers, zehntägiges spurloses Verschwinden. Den größten Teil des Romans machen seine geheimen Tagebücher aus, in denen er teils jammernd und greinend, teils prahlend, teils melancholisch die geheime Hälfte seines Doppellebens mit einer gewissen Bärbel „aufarbeitet“. Seine beiden Leben nördlich und südlich der Elbe – geografisch grob unterteilt: in Hamburg und Harburg – hält Mufti acht Jahre lang fein säuberlich getrennt. Das nördliche symbolisiert seinen einstigen Wunsch, ein urbanes, intellektuelles, „geistiges“ Leben zu führen; das südliche steht für saftiges, plebejisches, unmittelbares, körperliches Leben, das ihn ab einem gewissen Zeitpunkt seiner Biografie vom nördlichen Leben abhält. Und da kommt der Begriff Schelmenroman ins Spiel: Nach ungefähr einem Jahr Arbeit fiel mir nämlich auf, dass Mufti ein Schelm ist – nur dass er nicht, wie die meisten literarhistorischen Schelme, aus einem zweifelhaften Milieu in die gesellschaftliche Spitze aufsteigen will, sondern im Grunde seines Herzens im Gegenteil wieder zurück!
Mufti will also zurück nach Hause, zurück in den Muff der Provinz. Das ist eine sehr ironische Wendung des Heimatbegriffs, der für Sie überhaupt eine wichtige Rolle spielt.
Ganz gewiss! Der Heimatbegriff ist der autobiografische Motor meiner bisherigen schriftstellerischen Aktivitäten. Meine Heimat heißt Hagen, früher mal ein Kuhdorf von 400 Einwohnern in der Nähe von Stade. Da bin ich geboren und aufgewachsen; erwachsen geworden bin ich aber in Hamburg. Gott sei Dank, muss ich sagen; andererseits schwärt immer noch eine unrealistische Sehnsucht in den Gliedern und drängt offenbar stark danach, sich in mundartlichen Zitaten zu äußern. Im ersten Teil der Hagener Trilogie sagt der Icherzähler über seinen ebenfalls nach Hamburg emigrierten Freund Kolk: „Seine Heimat war das Bier.“ Der Heimatersatz für Mufti besteht in Erinnerungen an das Dorf seiner Kindheit, die großenteils in Sprache stattfinden – und vor allem in gesprochener Sprache, die oft sinnlicher sein kann als eine reflektierte.
Das Buch schreckt jedenfalls vor keinem Sprachwitz und keinem Kalauer zurück. In der „Zeit“ erschien auch prompt eine Kritik, die den Roman wegen seines Humors goutierte, dabei aber übersah, dass es auch um ernsthafte Probleme geht. Der Sprung, den Mufti in der Schüssel hat, ist ja nur für den Leser komisch, für ihn selbst aber ein echtes Dilemma.
Der freundliche Rezensent hat aber auch konstatiert, dass Mufti „von der Banalität der Verhältnisse in den Humor getrieben“ wird, und spricht von „Figuren, die nie komischer sein wollen als das Leben selbst“. Dennoch haben Sie Recht, Muftis Sprung in der Schüssel ist eine Metapher für – tja, ein großes Wort: für die Zerrissenheit seiner sozialen Identität. Das ist, trotz der Abgedroschenheit des Begriffs, ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem. Mufti leidet seit einem suffbedingten Schädel-Hirn-Trauma unter Migräne, und als seine zum großen Teil hausgemachten Probleme mit Bärbel übermächtig werden, dient sich diese physiologische Tatsache als psychologischer Ausweg aus seinem Dilemma an. Kurzum: Was passiert, wenn der Hypochonder krank wird? „Morbus fonticuli“ kann man als Antwort auf diese Frage lesen.
Sie zitieren einmal aus einer Fallstudie des Psychiaters Oliver Sacks. Es geht da um jemanden, der zwanghaft schwadroniert, weil er wahnsinnige Angst vor dem Vergessen hat. Liegt da einer der Zündpunkte des Buchs?
Ja, genau. Es heißt da: „Ein solcher Patient muss in jedem Augenblick sich selbst (und seine Welt) buchstäblich erfinden. Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, eine Art innerer Erzählung, deren Gehalt und Kontinuität unser Leben ist.“ Bei anderen von Sacks geschilderten Fällen dreht es sich um Hirngeschädigte mit Symptomen wie „Witzelsucht“, obwohl die Patienten weiß Gott keinen Grund zum Witzeln haben. Das hat mich schwer beeindruckt, weil es doch eigentlich eine herzzerreißende Allegorie darstellt. Bei Mufti allerdings weiß man nicht so genau, ob er die Migräne nicht als Vorwand benutzt, um seine Rechtfertigungssuada zu rechtfertigen.
Demaskiert wird im Roman unter anderem die windige Welt eines Anzeigenblatts. Sie haben selber eine Zeit lang diese Form des Journalismus betrieben. Alles selbst erlebt?
Nicht alles, aber einiges: Die Hauptfigur in diesem Milieu, Eugen von Groblock, beruht auf einem damaligen Kollegen (ist aber keinesfalls mit ihm identisch, das möchte ich betonen!); die reale Herausgeberin war allerdings viel netter als die im Roman. Hoffentlich nimmt sie es mir nicht krumm, falls sie aus dem Buch erfahren sollte, dass ich die „Frage der Woche“, die ich damals in Harburgs Fußgängerzone an den Mann und die Frau bringen musste, irgendwann getürkt habe. Gnade, Frau Bobeck! Peinlich vertauschte Bildunterschriften und solche Kleinigkeiten konnte ich eins zu eins übernehmen. Andere Geschichten sind frei erfunden.
Sie haben zwar einen eigenen Ton gefunden, aber Einflüsse gibt es wohl auch. Ich denke an Eckhard Henscheid, der sozusagen die Tragikomik des Suffs entdeckt hat, aber auch an Arno Schmidt im Hinblick aufs mikroskopische Sprachdetail. Auch Laurence Sterne mit seiner Abschweifungstechnik spielt eine Rolle. Und der Roman ist trotz aller Lebensprallheit hochgradig intertextuell.
Intertextuell aber nur – ich schwör’s – ungewollt. Auch die Namen Schmidt und Sterne ehren mich, müssen aber unbewusst Einfluss ausgeübt haben. Henscheid, das ist was anderes. Eine meiner Bibeln ist „Geht in Ordnung – sowieso – genau –“. Das habe ich sicherlich mit so starker Verehrung verinnerlicht, dass meine Abwehr gegen peinliche plagiatorische Gefahren womöglich recht schwach ausgeprägt ist. Zu meiner Verteidigung, die allerdings auch peinlich ausfällt, muss ich sagen, dass ich die „Trilogie des laufenden Schwachsinns“ erst kennen gelernt habe, als ich mit „Kolks blonde Bräute“ fast fertig war – also erst gut zehn Jahre nach Erscheinen von „Die Vollidioten“.
Wenn Sie von einer Trilogie reden, dann fehlt noch ein Roman. Ist der in Arbeit? Wird es wieder so ein gewaltiger Klotz? Wovon wird er handeln?
Ist in Arbeit, ja. Handeln wird er von der Kindheit im erwähnten Heimatdorf, konzentriert auf Muftis erste große Liebe im Alter von zwölf Jahren. Ich bete, dass er sich auf 200 bis 250 Seiten zu Papier bringen lässt.
Und erscheint dies Papier dann wieder bei Haffmans?
Ja. Nein. Weiß der Himmel.
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