zoologie der sportlerarten
: PROF. HIRSCH-WURZ über den Ausziehsportler

Heldenbrust mit Goldfarbe

Früher war alles ganz anders. Wenn im antiken Olympia um Lorbeerkränze gerungen, geworfen und gerannt wurde, dann gingen die Athleten nicht nur mit barer Brust, sondern auch mit barem Rest ans Werk. Allerdings handelte es sich ausschließlich um Männer, und wenn die Sache erledigt war, hüllten sie sich flugs wieder in ein bereitliegendes Gewand und bedeckten verschämt ihre Blöße.

Auch der Homo nacktschneckensis der Neuzeit kämpft um sportliche Lorbeeren, doch tut er dies, anders als sein antiker Vorfahr, vorzugsweise bekleidet. Erst, wenn der Wettkampf beendet ist, entledigt er sich eiligst seiner Klamotten und kann es kaum erwarten, sich vom Fotografen irgendeines halbseidenen Magazins ablichten zu lassen. Im Unterschied zum alten Griechenland handelt es sich beim bloßgelegten Sportler der modernen Ära in aller Regel um ein weibliches Wesen, auch wenn ein männliches Exemplar, der Zehnkämpfer Jürgen Hingsen, einst als Pionier auf dem Cover der Illustrierten Stern voranschritt und ein anderer, Uwe Beyer, als Film-Siegfried wenig mehr als ein Ahornblatt zur Bedeckung seines Muskelgebirges vorzuweisen hatte.

Der Homo nacktschneckensis gehört gewöhnlich einer Sportart an, die nicht gerade im Blickpunkt öffentlichen Interesses steht. Selbst der Gewinn güldener Medaillen zieht beim Schwimmen, Eisschnelllaufen, Wasserspringen oder den weiblichen Varianten diverser Ballspielarten kaum mehr als ein Schulterzucken nach sich. Ein nicht ausgeübter Bibliothekarinnenjob in einer Erfurter Bücherei ist so ziemlich das Höchste, was sich die Betreiberinnen derartiger Disziplinen erträumen können, und die meisten bescheiden sich auch mit solch kargem Lohn für sportlichen Ruhm. Die mediale Aufmotzung der olympischen Idee hat jedoch eine Hintertür geschaffen, die es bestimmten, entsprechend von der Natur bevorzugten Sportlerinnen ermöglicht, ihre Haut zu Markte zu tragen und als Fotostrecke in Publikationen zu enden, die ein Pierre de Coubertin auf der Stelle ins olympische Feuer geworfen hätte.

Grob lassen sich drei Varianten des Homo nacktschneckensis unterscheiden: jene Art, die erreichen möchte, dass sie überhaupt einmal von jemandem zur Kenntnis genommen wird, also australische Fuß- und Wasserballerinnen, deutsche Handballspielerinnen, Turmspringerinnen; eine zweite Art, die nach Werbeverträgen und Spitzenplatzierungen bei der ARD-Sportlerwahl lechzt, als da wären Schwimmerinnen, Boxerinnen und Eischnellläuferinnen mit oder ohne Goldfarbe am Körper; schließlich jene abgehalferte Art, die möchte, dass noch einmal über sie geredet wird, bevor die Erinnerung endgültig verblasst, vorzugsweise ehemalige Eisköniginnen.

Eine absolute Sonderform bildet der Homo nacktschneckensis dualis, der zu weltweiter Publizität vor allem in Gestalt des Ensembles Borisbabsbecker gelangte. Der Auftritt des jetsettenden Paares, dem später im nationalen Rahmen das kurzlebige Leichtathletikdoppel Schumann/Mensah nacheiferte, war insofern besonders bemerkenswert, als Sportler von Format bzw. befriedigendem Einkommen normalerweise nicht jener entblößenden Versuchung anheim fallen, der publicitywütige Aschenputtelathleten so regelmäßig erliegen. Doch was ist in Sachen Becker schon normal? Mit wissenschaftlichen Mitteln ist diesem Phänomen jedenfalls kaum beizukommen, und wer weiß schon angesichts jüngster Verlautbarungen, ob nicht sogar das nackichte Duo vergangener Tage in naher Zukunft eine sternmäßige Auferstehung erlebt.

Obwohl die Population des Homo nacktschneckensis beängstigend zunimmt, begnügen sich die meisten Sportler nach wie vor eher mit dem Halbakt. Das gilt für Fußballspieler nach dem Torschuss, Berufsboxer sowieso, aber auch für Diskuswerfer wie Karl-Heinz Riedel, der nach seinen Siegen gern mit bloßer Heldenbrust herumzustolziert wie der Chef-Adonis des Chemnitzer Freibades. Eine gelbe Karte, so erlauben wir uns aus Forschersicht anzumerken, wäre hier durchaus angebracht.

Wissenschaftliche Mitarbeit:

MATTI LIESKE

Fotohinweis: Holger Hirsch-Wurz, 59, ist ordentlicher Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungsexzentrik in Göttingen