Das Quiz des Jahrhunderts

Das Elektron, das Quandt und das Unbewusste: In seinem Buch „Das Lächeln der Medusa“ erzählt Peter Watson eine Geschichte des Nachdenkens und der Naturwissenschaften im bisherigen Zeitalter

Im Rückblick stellt sich das 20. Jahrhundert als ziemliches Desaster dar. „Das schlimmste Jahrhundert, das es jemals gegeben hat“, nannte es der Oxforder Philosoph Isaiah Berlin. Und dabei hatte alles so prima angefangen. Zwar ist das Zählen in Jahrhunderten nur eine gesellschaftliche Konvention, noch dazu eine, die für den größeren Teil der Menschheit von eher marginaler Bedeutung ist. Doch in jenem Jahr, das der Westen 1900 nennt, begann ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Zeitalter.

Denn im und um das Jahr 1900 wurden die wesentlichen Entdeckungen gemacht, die alle Weltbilder auf den Kopf stellten und für die folgenden hundert Jahre das wissenschaftliche, philosophische und kulturelle Nachdenken bestimmten: Das Elektron, das Gen, das Quant und das Unbewusste.

Die Geschichte dieses Nachdenkens will Peter Watson in seinem voluminösen Buch „Das Lächeln der Medusa“ erzählen und somit der LeserIn in einer über tausendseitigen Tour de Force mit erzählerischen Mitteln jene Geschichten nahe bringen, die vom vermaledeiten 20. Jahrhundert ruhigen Gewissens weitererzählt werden dürfen.

Ein Zeitalter wird besichtigt: Neben den großen Geistern und markanten Linien hat Peter Watson in seinem lässigen Plauderton immer auch einen Blick fürs Anekdotische, fürs amüsante Detail. Fleißig durchgearbeitet, breitet Watson locker Stoff für das nächste Jahrzehnt von „Wer wird Millionär“ aus. Wer weiß schon, welches die einzige chemische Formel war, die jemals den Aufmacher der New York Times einnahm? Nein, es war nicht Einsteins e = mc[2]. Es war vielmehr C7H38O, die chemische Formel für Kunstharz, die der Belgier Leo Hendrik Baekeland im gleichen Jahr entdeckt hatte und mit der zum ersten Mal ein Kunststoff produziert werden konnte, das Bakelit.

Der britische Autor Watson lässt keinen Zweifel daran, dass die intellektuell fruchtbarste Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts die deutsche (oder deutschsprachige) war und dass von Planck, Einstein und Heisenberg über Gödel, Ehrlich und Freud bis zu Mahler, Schönberg, den Manns und Brecht (die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen) das deutsche Geistesleben seine „ruhmreiche Epoche“ hatte. Ebenso wenig Zweifel lässt er aber daran, dass nach dem intellektuellen Kahlschlag von Nazizeit und Weltkrieg Deutschland zwar „seine Vorherrschaft auf dem kommerziellen und industriellen Sektor wieder herstellen“ konnte, es wissenschaftlich und kulturell aber bestenfalls noch die zweite Geige spielt. 104.098 deutsche und jüdische Flüchtlinge landeten alleine in den USA, darunter 7.622 Akademiker und 1.500 KünstlerInnen, zählt Watson auf. „Hitlers Geschenk an Amerika“ nannte das der “American Mercury“ in einer Titelstory. Auch so eine Quizfrage.

Das 20. Jahrhundert stand natürlich im Zeichen der Naturwissenschaften. Peter Watson versteht es, auf anschauliche Weise Licht in die schwarzen Löcher unserer Halbbildung zu bringen und von der Teilchenphysik bis zur Stringtheorie die bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen Revue passieren zu lassen. Dabei entgeht ihm aber auch nicht die Dialektik der Aufklärung, wiewohl merkwürdigerweise gerade das so überschriebene Buch von Horkheimer und Adorno nirgendwo Erwähnung findet. Dass nicht alles Gold ist, was strahlt, zeigt beispielhaft die Geschichte der Erfindung der Atombombe, “der schreckliche Höhepunkt jenes größten intellektuellen Abenteuers“, bei dem die „schöne Wissenschaft“ ihre Unschuld endgültig verloren hat. „A Terrible Beauty“ lautet denn auch, nach einem Vers von Yeats, der englische Originaltitel: das Schreckliche und das Schöne, die im 20. Jahrhundert so dicht beieinander liegen. Warum die deutsche Übersetzung „Das Lächeln der Medusa“ heißen muss, erklärt einem wieder mal keiner.

Peter Watson, Jahrgang 43, war New-York-Korrespondent der „Times“ und schrieb für den Observer. Das verrät der Klappentext. Er hat einen Kunstskandal aufgedeckt und ein paar Krimis verfasst. Der Grund für seinen schweren Wälzer war, all die dicken Bücher endlich einmal zu lesen, von denen er handelt. Das verrät Watson selber. Umso bedauerlicher, dass uns die deutsche Ausgabe das Literaturverzeichnis vorenthält. Denn das führt zu dem dicken Klops, dass im Text zum Beispiel auf „Feyerabend (1975)“ referiert wird, ohne dass irgendwo gesagt würde, dass es sich um Paul Feyerabends viel diskutiertes Buch „Against Method“ (Skizzen einer anarchistischen Erkenntnistheorie) handelt. Da hätte der Verleger gerne die gleiche Sorgfalt an den Tag legen dürfen wie der Autor und die fleißige Übersetzerin Yvonne Badal.

Nicht nur die großen geistigen Entwicklungen zeichnet der Autor sorgfältig und detailreich nach. Er stellt auch überraschende und manchmal unbekannte Zusammenhänge her. Zum Beispiel dass die Revolution in der Jugendkultur in den 50er-Jahren in einer lokalen Radiostation in Cleveland begann, wo ein findiger Discjokey die schwarze „race music“ in „Rhythm and Blues“ umbenannte und so auch für einen weißen Sender spielbar machte. Oder der Einfluss der Syphilis auf die Psychoanalyse, weil diese bis zum Anfang des Jahrhunderts „ungezähmte“ Krankheit eine chronische Angst vor „verbotenem Sex“ verursachte. 1910 stellte übrigens Paul Ehrlich das Gegenmittel “Salvarsan“ der Öffentlichkeit vor. Noch so eine Quizfrage. Das ganze Leben ist eben ein Quiz. Aber kaum jemand gibt so viele Antworten wie Peter Watson.

MICHA H. HAARKÖTTER

Peter Watson, Das Lächeln der Medusa, Bertelsman Verlag, München 2001, 1183 S., 50,11 Euro