Klauen ist besser als Sterben

Nicht Rebellion, aber Verweigerung: Die Reihe „Neues französischen Kino“ im FSK zeigt mit „Martha . . . Martha“ und „Die Diebin von St. Lubin“ Filme, die eine Diskussion politischer Realitäten und ästhetischen Mut auslösen könnten

Welches sind die großen Themen des Kinos? Liebe, Tod oder Heldenmut? Das Geld! – würde das deutsche Gegenwartskino sagen, das Geld, für das Lola rennt, das erbeutet und erlogen wird, damit die Action ihren Lauf nimmt. Die Liebe und den Tod im Handgepäck, den Koffer voll Geld.

Und das junge französische Kino? Ein armer Teufel, der auf trocken Brot herumkaut, wie es scheint. Das hat wohl seine Hausaufgaben nicht gemacht! Hat wohl die Scripthäuser nicht besucht, die Drehbuchwerkstätten, die dem deutschen Film das nötige Know-how beibringen: den Glamour und die Action.

„Die Diebin von St. Lubin“ von Claire Devers ist einer jener „armen“ französischen Filme, die Arbeit und finanzielle Not auf die Leinwand zurückbringen. Im Handgepäck den Mut zur politischen und ästhetischen Haltung.

Die allein erziehende Mutter Françoise Barnier (Dominique Blanc) wird beim Ladendiebstahl gestellt. Als ihr die entwendeten Lebensmittel nach und nach abgenommen werden, scheint sie wie aus einer Trance zu erwachen. Das hab ich alles gestohlen?, fragt sie, die kleine Tochter auf dem Schoß. Später vor Gericht wandelt sich ihre Unsicherheit in haltlose Rage. Sie rechnet die monatlichen Einnahmen zusammen und subtrahiert die Ausgaben für Wohnung, Essen und Kleidung; ihre Kinder gut zu ernähren, dafür reicht es nicht. Wegen Notstands wird sie dieses Mal freigesprochen. Als der Fall dann zum Politikum wird, erklärt man sie in der Berufung für schuldig.

Der Film entwickelt seinen Stoff ganz aus der Körpersprache der Protagonistin. Mit wütenden Bewegungen wischt sie den Boden in der Fabrik. Geübt und effizient führt sie die Verrichtungen des Alltags aus. Mit blassen Händen trägt sie gewissenhaft jede ihrer Ausgaben ins Scheckheft ein. Die Einstellungen erschaffen sukzessive das Bild eines Affekts von großer Intensität, der mit Worten wie Wut, Courage oder Erbitterung kaum zu fassen ist. Früher wurde man wegen seiner Armut nicht verachtet, sagt sie. Dass Françoise ohne den sozialen Rückhalt einer Klasse oder Großfamilie den Zumutungen ihrer Situation begegnen muss, erzählt der Film durch diesen rebellierenden Körper hindurch, der sie antreibt und nicht ruhen lässt, weil er aus sich selbst heraus Halt finden muss, wissend, dass niemand ihn auffangen wird.

Der Pflichtverteidiger rät ihr, ungedeckte Schecks für die Miete auszustellen, dann gebe es irgendwann Schuldenerlass. Aber „das Stehlen mit nackter Hand“ werde nicht toleriert. Mit unglaublicher Differenziertheit legt Claire Devers ein gesellschaftliches Tabu offen, indem sie die Strategien der kollektiven Verdrängung sichtbar macht: Scheu vermeidet der Pflichtverteidiger den direkten Blickkontakt mit Françoise. Als fürchte man sich vor Ansteckung, hält ihre Umgebung körperlichen Abstand.

„Die Diebin . . .“ schließt an Filme wie „Rosetta“ (von den belgischen Brüdern Dardenne) und „L’Humanité“ (von dem Franzosen Bruno Dumont) an, die unlängst auf internationalen Filmfestivals für Furore sorgten: mit Bildern jener Vereinzelung, von der unsere Gesellschaft substanziell geprägt ist.

Für „Martha . . . Martha“ gilt Ähnliches, obgleich dieser Film aus einer ganz anderen Perspektive heraus operiert. Er erzählt von einer jungen Frau, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einer französischen Kleinstadt wohnt, wo die Familie vom Verkauf gebrauchter Kleidung lebt. Martha gerät immer tiefer in eine Depression, die schließlich im Sebstmord endet. Dramaturgisch folgt der Film jener Logik aus Trauer und Ausweglosigkeit: Die erste Szene zeigt Martha bei ihren Eltern, wo die psychisch kranke Mutter sie mit der anderen, bevorzugten Tochter verwechselt. Wie ihre Mutter wird auch Martha an Liebe, Leben und Tochter scheitern, ohne den Kreislauf aus Nicht-geliebt-Werden und Nicht-lieben-Können zu durchbrechen.

Die Stärke des Films liegt in den Bildern, die er dem Alltag entnimmt. Die ärmliche Wohnung, die bunten Kleider aus zweiter Hand, das spärliche Licht in den kleinen Räumen – all die Details vermitteln den Eindruck von etwas nie Gesehenem. Als hätte die Kamera jene Studiowände eingerissen, zwischen denen sonst nur die symbolischen Versatzstücke des häuslichen Lebens aufgestellt werden: das Kinderbett, an dem die Eltern Gutenachtgeschichten vorlesen oder der Esstisch, an dem die Familie sich zum Abendessen einfindet. Die Regisseurin Sandrine Veysset lässt uns die gesamte Fülle von Gegenständen schauen, die benutzt und bewegt werden, um so dem chaotischen Alltag Ordnung und Struktur zu geben. Marthas Haltung ist nicht die der Rebellion, sondern die der Verweigerung. Ihre „nackten Hände“ verweigern die Sorge für sich selbst, die Fürsorge für das Kind, die Zärtlichkeit für den Mann. Verweigerung und Rebellion – Martha und die Diebin könnten Schwestern sein. Fast möchte man an Verschwörungstheorien glauben, wenn man sich vor Augen führt, dass beide Filme bisher nicht ins deutsche Kino gekommen sind.

ILKA SCHAARSCHMIDT

Die Diebin von St. Lubin: OmU, 4. 12., 20.30 Uhr u. 5. 12., 18.15 Uhr / Martha . . . Martha: O. m. engl. U., 4. 12., 18.15 Uhr u. 5. 12., 20.30 Uhr im FSK