: Die Sammler und die Sammlerin
Im Grunde hat sie schon immer am liebsten die Kamera genommen und ist losgezogen. Bei ihrem ersten Ausflug verknüpfte Agnès Varda die Geschichte eines junge Paares mit der Lage der von Wasserverschmutzung bedrohten Fischer in einem französischen Dörfchen. Der Film, der so 1955 entstand, hieß „La Pointe Courte“ und gilt als Beginn der Nouvelle Vague – obwohl Varda mit den wilden jungen Männern von den Cahiers du Cinéma damals kaum zu tun hatte.
In der französischen Kinolandschaft ist sie bis heute ein Solitär: Von Anfang an verwischte Varda die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentarischem, verdiente sich das Geld für ihre eigenen Filme häufig durch Auftragsarbeiten und entdeckte Themen, die immer wieder die Stimmungen eines Jahrzehnts einfingen: In „Cléo de 5 à 7“ die zwischen Aufbruch und Ängsten schwankenden Sechziger. In „Lion’s Love“ die amerikanische Szene zwischen Warhol, hippiesker Selbstinszenierung und dem Einschnitt des Kennedy-Attentats. In ihrem 1985 entstandenen Spielfilm „Vogelfrei“ mit Sandrine Bonnaire in der Rolle einer Obdachlosen sammelte Varda schließlich die nüchternen Reste der linken Utopien ein.
Ob sie ein Porträt von Jane Birkin drehte oder die Kindheit ihres verstorbenen Ehemanns Jacques Demy rekonstruierte – schon lange bevor die Fragmentierung im Kino Mode wurde, fuhr Varda den Körper mit der Kamera ab, erklärte Menschen zu Landschaften und damit alles zu filmbarem Material.
Auch in ihrem neuen Film verbindet sich diese Verspieltheit mit einem selbstverständlichen Engagement: „Die Sammler und die Sammlerin“ beginnt mit François Millets berühmtem Gemälde von den Kartoffelklauberinnen. Wer sammelt heute eigentlich Reste?, fragt sich Varda und ist damit schon bei der Grundbewegung ihres Films. So gelangt sie zu den Abfallsuchern der Pariser Märkte, zu denen, die Mülltonnen und Schrottplätze durchforsten, zu Menschen, für die das Sammeln Notwendigkeit, Philosophie oder auch Hobby ist.
Es ist ihre Autorinnenpersönlichkeit, die den Film vor der Tristesse einer Sozialreportage bewahrt und zu einer heiteren Reise in die Abgründe der Wegwerfgesellschaft macht. Wenn alles filmbares Material ist, dann kann die Rembrandt-Postkarte, die Varda bei der Rückkehr von einer Reise in der Post findet, in die Falten ihrer Hand übergehen, die eher zufällig ins Kameraobjektiv gelangt. Dann kann ein Müllsucher zur Globalisierungskritik führen und die merkwürdige Form einer Kartoffel zu ganz neuen Gedankengängen. „Die Sammler und die Sammlerin“ wirkt auch deshalb so kostbar, weil es eine 73-jährige Bildersammlerin ist, die sich die kleine Digikamera geschnappt und einen der jüngsten Kinofilme seit langem gedreht hat. nic
„Die Sammler und die Sammlerin“. Regie: Agnès Varda, Frankreich 2000, 82 Min.
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