: „Jes, Aj em fri!“
Artur Becker schildert eine Flucht aus Polen nach Kanada und zurück: „Onkel Jimmy, der Indianer und ich“. Lasst uns Pfirsichbäumchen pflanzen
von SUSANNE MESSMER
Was könnten sie gemeinsam haben, ein exilierter Pole und ein nordamerikanischer Indianer? Während Jimmy Koronko aus Czerwonka in Polen, seit fünf Jahren wohnhaft in Winnipeg in Kanada, im Sommer 1989 wie festgenagelt vorm Fernseher die Nachrichten verfolgt, lässt es seinen Neffen Teofil kalt, was sich da tut in seinem Land. Das können die Indianer Babyface und Chuck, bei denen die beiden wohnen, nicht nachvollziehen. Chuck sagt zu Teo: „Wenn man uns Indianern unser Land zurückgeben würde, mit allen Rechten und Machtbefugnissen, würde ich doch nicht den Kopf hängen lassen!“
Und wirklich verblasst Teo, der Icherzähler in Artur Beckers neuem Roman „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“, geradezu hinter der Figur seines Onkels. Jimmy Koronko ist die eigentliche Hauptfigur: ein herrlicher Schmarotzer, übler Rassist, ein unappetitlicher, absolut authentisch gezeichneter Macho, der alles bescheißt, was ihm in die Quere kommt. Nicht nur, weil er trotzdem der liebenswürdigste Mensch auf der Welt ist, sondern auch, weil er den damals noch minderjährigen, aber frischverliebten Teo mit seiner Freundin Agnes nach Kanada mitgenommen hat, kann sich Teo einfach nicht von Jimmy lösen. Ohne seinen Onkel hätte er in Polen Schlachter werden sollen, und das, wo er doch immer schon lieber auf seiner tschechischen E-Gitarre Frank Zappa nachspielte.
Artur Beckers Buch ist die abenteuerliche, tragikomische Geschichte eines Fluchtversuchs, die nicht wirklich gelingt. Sagt Jimmy anfangs noch „Jes, Aj em fri!“, merken die beiden doch schnell, dass es schlecht bestellt ist um den amerikanischen Traum, den sie in Kanada zu finden hofften. Ihre angestrebte Musikerkarriere kommt nicht in Gang. Als Agnes Teo verlässt, weil der sich nicht von Jimmy trennen kann, werden die Aushilfsjobs immer trister. Schließlich finden sich beide auf dem Bau wieder und Jimmys Schuldenberg nimmt immer desolatere Ausmaße an. Der einzige Halt, den die beiden finden, sind die Indianer Babyface und sein Adoptivsohn Chuck – eine Männerfreundschaft entwickelt sich.
Nicht nur das aussichtslose Heimweh verbindet die vier Männer. Es ist auch die Flucht in chauvinistische Sprüche als letzte Rettung vor dem Gesichtsverlust, die sie eint, außerdem ihre heldenhafte, weil zum Scheitern verurteilte Suche nach dem Amerika aus dem Reisekatalog. Sie kämpfen, obwohl sie wissen, dass sie längst verloren haben, und spielen ihre neue Identität gegen ihre alte aus und umgekehrt. „Jimmy und ich verstanden uns als arme Musiker aus Osteuropa ... von den Kommunisten schikaniert ... da sahen wir es gar nicht ein, Frontgeld zu enrichten – Steuern zahlten wir grundsätzlich nicht, schon gar nicht an die Kapitalisten.“ Babyface pflanzt jeden Sommer neue Pfirsichbäumchen, die im kalten kanadischen Winter erfrieren. Obwohl schon eine erste Reise mit dem Ziel Kalifornien in einem Unwetter am Salk Lake endet, bricht man ein zweites Mal auf. Diesmal landen sie in einem Zentrum für Meditation in Banff. Immerhin lernt Teo hier seine zweite große Liebe kennen.
Und wie soll das alles enden? Artur Becker lässt es offen. Zum Schluss besuchen Onkel und Neffe Polen, ihre alte Heimat. Obwohl sich in den neun Jahren gar nicht so viel verändert hat, haben sie dort den Anschluss verpasst. Es ist ihnen nicht zurückgegeben worden, ihr Land.
Artur Becker: „Onkel Jimmy, der Indianer und ich“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2001, 254 Seiten, 19,43 € (35,97 DM)
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