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High Noon auf dem Eis

Bei den Deutschen Meisterschaften im Eiskunstlaufen liefert sich der neue Champion Stefan Lindemann ein packendes Duell mit Andrejs Vlascenko und verbessert seine Olympiachancen

aus Berlin MATTI LIESKE

Angela Siedenberg ist nach eigener Einschätzung eine äußerst optimistische Person. Das ist auch nötig, wenn man in diesen schweren Zeiten als Präsidentin der Deutschen Eislauf-Union (DEU) amtiert. Vom Glanz früherer Jahre ist wenig geblieben, der Verband kann froh sein, wenn er bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City überhaupt vertreten sein wird. Das ist ebenso einem Mangel an Läuferinnen und Läufern der absoluten Spitzenklasse wie sehr strengen Qualifikationskriterien geschuldet. Mindestens Platz acht bei den Europameisterschaften im Januar in Lausanne ist gefordert, zumindest, solange Eistänzerin Kati Winkler noch mit einem Besenstiel statt mit ihrem Partner Rene Lohse trainiert, der sich am Knie verletzt hat, ist eine solche Platzierung allenfalls den Herren zuzutrauen.

Zu absurder Stunde

Deren Wettkampf bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin am Wochenende bewegte Angela Siedenberg zu der Aussage, es habe sich gezeigt, dass es mit dem Eislaufen nicht ganz so schlecht ist, wie manche befürchtet haben.“ Optimistisch fürwahr, aber auch nicht ganz falsch, denn der neue Meister Stefan Lindemann und sein Widersacher Andrejs Vlascenko aus München bewiesen mit ihrem spannenden Duell am Samstag zu absurder Stunde um zwölf Uhr mittags, dass sie die Kufen ganz prächtig zu schwingen vermögen. Zunächst legte der nach dem Kurzprogramm führende Vlascenko eine solide und ausdrucksstarke Kür hin, danach verblüffte der athletischere Lindemann die Preisrichter mit einer wirbelwindigen Dreifachkombination zu Beginn seiner Darbietung derart, dass sie anschließende Patzer großzügig übersahen und den Erfurter zum Sieger erklärten.

Von „Beschiss“ sprach Vlascenkos Trainerin Steffi Ruttkies, „Fotofinish“ nannte es diplomatisch Verbandspräsidentin Siedenberg, der das Ergebnis aber perfekt in den Kram passt. Weil sich der gebürtige Lette Vlascenko aufgrund von alkoholinduzierten Verkehrsdelikten in der deutschen Einbürgerungsbürokratie verfangen hat, ist Lindemann die alleinige Option für Olympia. Ein deutscher Meistertitel ist nicht nur gut für das Selbstvertrauen des Junioren-Weltmeisters 2000, sondern erhöht auch das Ansehen beim internationalen Preisgericht. Bezüglich des vom IOC geforderten Vlascenko-Passes kündigte Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB), am Ende der Meisterschaften zwar an, sich noch einmal im Innenministerium für den 27-Jährigen verwenden zu wollen, doch die Chancen stehen nicht gut. Schließlich geht es um nichts Geringeres, als Otto Schilys „Verpisst euch, ihr Schurken“-Politik bezüglich ausländischer Einwanderer zum Wohle des Sports zu konterkarieren – und dies in Bayern. „Es gibt auch noch Einfacheres“, murmelte von Richthofen.

Für eine Handvoll Dollar

Stefan Lindemann schien selbst etwas peinlich berührt vom dubiosen Ausgang des Wettkampfes, freute sich aber nichtsdestotrotz darüber, dass seine sich um Ennio Morricones Musik aus „Für eine Handvoll Dollar“ rankende Kür „bei den Preisrichtern ankommt“. Die Zusammenarbeit mit der renommierten Chemnitzer Trainerin Jutta Müller, die einst Katarina Witt zu Weltruhm triezte, hat die Ausdruckskraft des 21-Jährigen, der zuvor meist wie ein Vollgummiball über das Eis hüpfte, deutlich verbessert. „Das hilft sehr“, sagt Lindemann, auch wenn die Kooperation bedeutet, dass er des Öfteren von Erfurt nach Chemnitz zur 73-jährigen Trainerin fahren muss.

Seinen potenziell größten Trumpf hat Stefan Lindemann in Berlin noch gar nicht ausgespielt. Bei der EM soll der vierfache Toeloop, den er sich für diesen Winter erarbeitet hat, jedoch zum Einsatz kommen. „Ohne Vierfachsprung gewinnt man international keine Medaille mehr“, weiß Jutta Müller, die sich mit weniger natürlich nicht zufrieden gibt. Am heimischen Computer hat Lindemann den schwierigen Sprung perfektioniert, indem er seinen Bewegungsablauf mit dem des Weltmeisters Alexej Jagudin verglich. In Berlin sollte eigentlich Premiere sein, doch er verzichtete auf den Toeloop, weil er „zuletzt im Training nicht so gut geklappt hat“. Die Gefahr, sich durch einen misslungenen Versuch aus dem Rhythmus zu bringen, sei zu groß gewesen.

Gelingt es ihm, den Sprung in sein Programm zu integrieren, verfügt Lindemann mit der spektakulären Dreifachkombination, direkt gefolgt vom vierfachen Toeloop, über eine Auftaktphase seiner Kür, die geeignet ist, jedes Preisgericht zu beieindrucken und ihm den Weg nach Olympia zu ebnen. Als einsamer Streiter könnte er dort den finanziellen Absturz der DEU, der Sportförderungseinbußen von 20 Prozent drohen, ein wenig dämpfen. Den versiegenden Geldfluss bekommen vor allem die Trainer zu spüren. Diese sollen künftig keine Gehälter mehr erhalten, sondern nur noch nach Leistung bezahlt werden. Viele befürchten, dass dieses System der Erfolgsprämien für Erfolglose zwecks Erfolgsfindung eher zu Trainerschwund und weiterem Absturz führt. Nicht so Angela Siedenberg. Zehn Jahre lang habe man es nach der alten Methode probiert und es funktionierte nicht, sagt sie. „Also gehen wir einen neuen Weg.“ Wie gesagt: Die DEU-Präsidentin ist sehr optimistisch.

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