: Schlimmer die Leute nie werden
Immer wieder im Advent schuftet die 22-jährige Maria, um ihr Germanistikstudium und die gestiegenen Konsumansprüche zu finanzieren. Zehn Stunden pro Tag steht sie als typische Aushilfskraft dafür in der Kälte und betreut die hektische Kundschaft
von TINA BUCEK
Dienstagmorgen, sechs Uhr dreißig. Maria schält sich aus den warmen Laken in ihrem WG-Zimmer in der Quitzowstraße. Die Sonne über Moabit ist noch nicht aufgegangen, stattdessen schmücken Eisblumen das Badfenster. „Mist“, murmelt sie, „wo sind denn jetzt die Ski-Socken.“ Zeitgleich schiebt sie mit der rechten Hand den Nutella-Toast in den Mund und angelt mit dem Fuß nach ihrem Rucksack. Jetzt muss alles ruck, zuck gehen – Thermosflasche auffüllen, Schal und Stiefel schnüren und ab in die U2 Richtung Alexanderplatz – denn Maria kommt sowieso schon wieder auf den letzten Drücker: zur Schicht auf dem Weihnachtsmarkt.
Zehn Stunden hat die Germanistikstudentin heute vor sich. „Von zehn bis zwanzig Uhr die Zehen aneinander reiben und mit Weihnachtskugeln, Duftkerzen und Strohsternen in allen Variationen um die Wette strahlen“, flachst die 22-Jährige. Obwohl ihr, wie sie einräumt, bei 5 Grad minus oder Dauerregen auch schon mal das Lachen vergehe. „Aber was macht man nicht alles fürs liebe Geld.“ Ein Gutes zumindest habe das Ganze, erzählt sie, während sie es sich in der drei Quadratmeter großen Holzbude bequem macht – sprich: ein Kissen auf den Klappstuhl legt und ihre Verpflegung unter der Theke deponiert. „Man kriegt pro Stunde zwölf Mark und kann damit locker die Weihnachtsgeschenke finanzieren.“
Noch ehe unser Plauderstündchen gemütlich werden kann, steht schon die erste Kundin vor dem Stand. In der einen Hand zwei prall gefüllte Karstadt-Tüten, wühlt sie mit der anderen unkoordiniert die verschiedenen Lamettasorten auf der Verkaufstheke durcheinander. „Was suchen Sie denn?“, fragt Maria, noch freundlich, obwohl vom Würstchenbräter gegenüber dunkelgraue Rauchschwaden zum Husten reizen. „Ich habe hier letztes Jahr so einen bestimmten Rotton entdeckt. Der passte genau zu meinem sonstigen Tannenbaumschmuck“, antwortet die dick eingepackte Dame ohne aufzuschauen, und ihre Wühlgeschwindigkeit steigert sich proportional zur Ungeduld in ihrer Stimme. „Lametta liegt in diesem Jahr nicht so im Trend“, sagt Maria ruhig. „Kann sein, dass wir Ihr Rot nicht mehr im Sortiment haben.“ Was sie nicht sagt, ist, dass sie für das Entwirren der inzwischen völlig verknoteten Fäden vermutlich ihre Mittagspause wird opfern müssen. Und dass es ihren Arbeitgeber herzlich wenig interessiert, dass sie irgendwann auch mal zum Klo muss. „Am Stand muss eben immer jemand sein.“ Nach einer Viertelstunde wilden Gekrames wird es der Lametta-Fetischistin zu mühsam. „Dann Suche ich eben am Stand gegenüber“, mault sie und würdigt Maria keines Blickes.
Inzwischen hat sich eine Traube gibbelnder Teenager eingefunden. „Ich brauch’ noch was Süßes für meinen Freund“, flüstert eine Wasserstoffblonde ihrer gegelten Freundin zu. Bevor Maria eingreifen kann, hat sie einen Filzteddybär aus der hintersten Reihe der Auslage gefischt. Dabei rollen die gespritzten Tannenzapfen aufs Pflaster. Und die Mädchen machen sich verlegen tuschelnd aus dem Staub.
Maria seufzt und tritt aus dem Türchen ihres engen Holzdomizils. Stück für Stück drapiert sie die Zapfen wieder auf dem Verkaufstisch, ansehnlich und einladend. „Das Theater habe ich zweimal die Woche“, erzählt Maria. Dienstag und Freitag hat sie sich in ihrem Vorlesungsplan freigeschaufelt – zum Geldverdienen. „Und je näher der Heiligabend rückt, desto schlimmer werden die Leute.“ Die Germanistikstudentin ist das Vorweihnachtsschuften gewöhnt. Schon seit drei Jahren profitiert sie – als regelmäßig angeforderte Aushilfe auf dem Weihnachtsmarkt – vom Konsumrausch in der Adventszeit. Bei 800 Mark Bafög ist sie auf den Job angewiesen. „Die vier Wochen“, meint sie, „retten mich über den familiären Schenkwahn.“
Dass Standbesitzer und auch sonstige Einzelhändler auf rund 20 Weihnachtsmärkten im Stadtgebiet mit den billigen Arbeitskräften rechnen, bestätigt Klaus Pohl vom Landesarbeitsamt. „In dieser Zeit werden sehr viele Aushilfskräfte auf 630-Mark-Basis eingestellt.“ Häufig seien es Studenten, die sich für kleines Geld und viele Stunden auf dem Weihnachtsmarkt verdingen. „Vielen normalen Arbeitskräften sind die Schichten zu lang“, meint Pohl.
Auch Maria lacht, mittlerweile ist es kurz vor acht Uhr abends, nicht mehr. „Meine Füße sind die reinsten Eisklumpen“, stöhnt sie, während sie ihre Sachen zusammenpackt. Bevor sie im U-Bahn-Tunnel verschwindet, gönnt sie sich noch was Süßes: eine Tüte Mandeln vom Stand um die Ecke. „Der hat noch bis zehn auf.“
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