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Sinn stiftende Tätowierungen

Der klassische Schizo-Effekt: Christopher Nolan schickt in dem Noir-Thriller „Memento“ seinen traumatisierten Helden auf die Suche nach Erinnerungen an eine permanent sich auflösende Realität

von ANDREAS BUSCHE

Grauenhafte Einsamkeit der Amnesie: Wenn Leonard Shelby morgens in seinem Hotelzimmer aufwacht, kann er sich an nichts erinnern – wie er dorthin gekommen ist; ob das sein Zimmer ist; und warum seine Frau nicht neben ihm liegt. Jeden Morgen dieselben Gedanken. Sein mentaler Rundum-Check: Cogito, ergo sum? Für Shelby wäre die Formel zu einfach, es fehlt ihm die letzte Gewissheit einer relativierenden Autorität. Bedingungslose Subjektivität aber kann in seiner Situation tödlich sein.

Einen Racheengel wie Leonard Shelby hat das Kino noch nicht gesehen. In „Memento“, dem zweiten Film von Christopher Nolan, rast er durch eine weitläufige Kulisse geschichtsloser Urbanität. Diese Geschichtslosigkeit doppelt sich in der Figur des „Lonesome Cowboy“: Shelby hat nach einem Überfall auf sich und seine Frau sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Seine Frau starb an den Folgen des Überfalls. Seit diesem traumatischen Ereignis löschen sich alle neuen Erinnerungen innerhalb weniger Minuten aus seinem Speicher. Shelbys Welt ist in Puzzleteile zerfallen, die er mühevoll zusammenhalten muss, um an das Bild des Mörders seiner Frau zu gelangen. Doch seine eigenen Bilder haben ihre Signifikanz verloren, die Einheit von Gegenständlichkeit und Repräsentation ist in seinen verzerrten Wahrnehmungsmustern aufgehoben. Diesen Zusammenhang muss er permanent neu herstellen – und doch bleibt es immer nur Resultat einer gezielten Täuschung.

Nolan hat einen effektvollen, doch genialen dramaturgischen Kniff gefunden, um Shelbys mentale Kondition in eine angemessene narrative Form zu bringen. Da das flüchtige Gedächtnis von Shelbys Bildern jeglicher Zeitfolge entbunden ist, kann Nolan die einzelnen Sequenzen in umgekehrter Reihenfolge montieren. So wird der Film zurück zum Anfang erzählt, bis zu dem Punkt, an dem das Gedächtnis seine Unschuld verlor. Nolan wirft dabei die Kausalität der Ereignisse über den Haufen. Der Zuschauer wird genauso hilflos wie Shelby durch das schieflagige Zeitkontinuum getrieben. Ein klassischer Schizo-Effekt.

Funktionieren kann das für den Zuschauer natürlich nur, weil Shelbys Handlungen längst nicht mehr auf logischen Schlüssen beruhen, sondern bloß reflexhaft sind. Ausgelöst werden sie durch äußerst wacklige Indizien: Polaroids von Orten und Menschen wie Natalie und Teddy, die immer wieder seine Wege kreuzen, ohne dass ihre Motive schlüssig werden. Oder durch Zettel mit gekritzelten Notizen: „Kann ich ihnen trauen?“, und die Erinnerungen an seine Frau: „Wie kann ich mich daran erinnern, dich zu vergessen?“ Liebe ist die einzige feste Größe in Shelbys kognitivem Schwundzustand, weil Liebe auf ewig unauslöschlich bleibt. Ein romantisches Ideal, von dem es im Film heißt: „What’s your last memory?“ – „My wife . . .“ – „Oh, that’s sweet!“ – „. . . dying.“

Das Wissen um die komplexen Zusammenhänge, nach denen Gegenstände und ihre Repräsentation miteinander verschraubt sind, schafft nach Innen das betäubende und gleichsam gefährliche Gefühl von Gewissheit und nach außen hin klare Machtverhältnisse. Nur waren die Parameter, die solche Realitätskonzepte konstituieren, immer schon variabel, Folge von kulturellen oder sozialen Umdeutungen über längere Zeiträume – das macht auch Shelbys Realität so angreifbar. So lässt Nolan den Zuschauer mit dessen derangierten Bildern allein, als Albtraum eines pathologischen Entfremdungsprozesses. Shelbys Bilder haben keine Geschichte mehr, darum sind sie beunruhigend. Und weil auf sein Gedächtnis kein Verlass mehr ist, hat Shelby seinen Körper als letzte Konsequenz in ein Notizbuch verwandelt. Über seiner Brust prangt der eintätowierte Schriftzug „Er vergewaltigte deine Frau und tötete sie.“ Nur zur Erinnerung. Seine gesamten Recherchen hat er auf diese Weise dokumentiert, als eine Liste von Fakten und Erinnerungsfragmenten in die eigene Haut gebrannt: „Gehe nicht ans Telefon.“ Oder: „Erinnerung ist Verrat.“ Shelbys Gedächtnis hat sich buchstäblich in seinen Körper eingeschrieben, gleichzeitig wird seine mentale Störung in den Schriftzeichen mittelbar. Der Körper ist Text geworden.

Ein postmoderner Mythos ist mit „Memento“ in das Sujet des „Thriller Noir“ eingebrochen, des klassisches Genre des Vergessens und Verdrängens. Es wird auch kolportiert, dass „Memento“ der neue Lieblingsfilm Slavoj Žižeks sei. Was nicht verwundert. Aber die Pop-Philosophien liefern nur den bedeutsam aufgeschäumten Subtext eines brillanten Vexierspiels. Durch die Umkehrung der Chronologie gelingt die Wiederherstellung von Shelbys Urzustands der Unschuld, der seinen Rachefeldzug erst bedingt. Dabei sorgt seine bewusstseinserweiternde Entschlüsselung einer „Matrix“-ähnlichen Realität in „Memento“ für merkwürdig psychotronische Unschärfen im Verhältnis von dem, was wir sehen, zu dem, was wirklich ist. Das ist Nolans Beitrag zu Heisenbergs hundertstem Geburtstag.

„Memento“. Regie: Christopher Nolan. Mit Guy Pearce, Carrie-Anne Moss, u. a., USA 2000; 113 Min.

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