: Der Winter kommt aus Rostock
Der 16-jährige Sven Schall betreibt die Eisbahn am Alexanderplatz. Das liegt in der Familie. Der Bruder lässt in Rostock schliddern, die Mutter in Brandenburg, der Onkel in Niedersachsen. „Manchmal“, sagt er, „hat man das Gefühl, man friert fest“
von KIRSTEN KÜPPERS
Sven Schall ist 16 Jahre alt. Er hat kurze braune Haare und trägt Brillengläser, die seine Augen größer aussehen lassen, als sie in Wirklichkeit sind. Sven Schall kommt aus Rostock. Das einzig Auffallende an ihm ist, dass er das Elend der Pubertät mit schiefem Lächeln zu ertragen scheint. Mit verzogenem Gesicht steht der Junge also in einem blauen Anorak im Nieselregen am Alexanderplatz, den Kopf in den Schultern verkrochen.
Nichts deutet äußerlich darauf hin, aber Sven Schall ist tatsächlich wichtig für Berlin. Ohne ihn wäre der Winter hier gar nicht spürbar, ja Sven Schall bringt den Menschen den Winter überhaupt erst in die Stadt: modern, billig und bequem. In Form einer künstlich erzeugten Eisfläche, mit einer weißen Zeltplane überdacht und von lauter Diskomusik beschallt.
Der 16-Jährige betreibt die Schlittschuhbahn vor dem Kaufhof am Alexanderplatz. Eisbahnen sind ein angenehmer Kältezustand. Erfrischende Unterhaltung, die maximal zwei Stunden dauert. Diese hier ist noch dazu aus Rostock importiert. Das mögen die naturentwöhnten Menschen in Berlin. Ein lukratives Geschäft für Sven Schall. Deswegen wohnt er im Forum Hotel, auch wenn das für einen Jungendlichen seines Alters teuer erscheinen mag. Doch er kann sich eine ordentliche Unterkunft leisten. Weil die Leute dafür bezahlen, dass ihnen das bisschen Sehnsucht nach Winter erfüllt wird, nachdem das Wohnen in der Großstadt und die Klimakatastrophe die echte Erfahrung längst verdorben haben; die Menschen sind froh, wenn einer mit einer Schlittschuhbahn in Stadtzentrum kommt und eine mit Tannenzweigen, Musik und Christbaumkugeln geschmückte Ablenkung verspricht. Ohne Schalls Eisbahn wäre der Weihnachtsmarkt auf dem Alexanderplatz jedenfalls sehr viel weniger beliebt. Das sagen die Passanten hier.
Sven Schall steht einen ganzen Monat lang in der Kälte vor seinem Zelt neben dem Kaufhof, wartet im blauen Anorak seine Kunden ab. Die Schulschwänzer kommen morgens als Erstes. Weil die Musik auf der Bahn gut ist und laut. Nachmittags schliddern die Rentner mit ihren Enkeln. Weil man diesen Ausflug schon im Sommer versprochen hat. Die Familien sind am Samstag da, nach dem Wochenendeinkauf.
Schall kennt auch alles, was dann auf dem Eis passiert, was die glatte Fläche zum Erlebnis macht. Weil es immer das Gleiche ist: die fiebrige Aufgeregtheit, die Albernheit, die unbeholfenen Schlenkerbewegungen. Schlittschuhlaufen verlangt ungewohnte körperliche Fertigkeiten. Viele Besucher sind auch einfach vom Glühwein betrunken, den es an den Nachbarbuden gibt, meint Sven Schall.
Wendig und sicher wirken nur die Jungs mit den Bomberjacken. Ein paar von ihnen seien immer auf der Bahn, erklärt Schall. Die Kufen schaben beim Bremsen das Eis auf, vor jeder schnellen Runde eine Zigarette. Die Sorte Halbstarker, vor denen Jüngere an der Bushaltestelle Angst haben.
Sven Schall lehnt außen an der Bande und guckt zu. Eine schüchterne Bewunderung, die irgendwo zwischen Kopf und Kragen steckt; die dort hängen bleibt, auch wenn man noch so viele Stunden an der Bahn steht. Wenn der Hunger kommt, holt er sich eine Bratwurst vom Stand nebenan. „Manchmal“, sagt er, „hat man das Gefühl, man friert fest.“
Die Schalls sind anerkannte Leute in der Schaustellerszene. Sieben Eisbahnen gehören der Familie, außerdem ein Karussell und eine kleine Achterbahn. Während Sven mit seinem Vater gerade in Berlin Kasse macht, steht die Mutter mit einer Schlittschuhbahn in Brandenburg, der Bruder mit einer Anlage in Rostock, der Onkel hat in Niedersachsen aufgebaut. Es sei immer klar gewesen, dass man Hauptschule macht und die Sache mit den Eisbahnen dann weiterführt, meint Sven. Er wischt sich mit dem Ärmel übers Kinn. Das Verrückteste, was ihm an seinem Arbeitsplatz bisher passiert ist, schiebt er hinterher, sei, dass einmal ein Mann mit dem Kopf gegen die Bande der Eisbahn geknallt ist. Das war vor zwei Jahren. Er lächelt schief und kickt mit dem Fuß eine Bierdose weg.
Aus dem Lautsprecher dröhnt eine verpoppte Version von „Jingle Bells“. Es mag an dem scheppernden Klang der Musik liegen, am Geruch nach Bratfett, der über dem Weihnachtsmarkt liegt, am kalten Nieselregen oder am frierenden Gesicht von Sven Schall – bisweilen vermittelt der Alexanderplatz tatsächlich eine schöne Ahnung vom tiefen Verlangen der Menschen nach Festtagsgefühlen. Ein Punker, der vor dem gegenüberliegenden U-Bahn-Eingang sitzt, hat sich eine rote Mütze mit bunten Leuchtbirnen auf den Kopf gezogen. Ein Mann und eine Frau laufen als Weihnachtsmann und Engel verkleidet vorbei. Dem Engel hängt eine Sofortbildkamera über der Schulter.
Die Eisbahn auf dem Alexanderplatz ist bis zum 5. Januar täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Für zwei Stunden Eislaufen bezahlen Erwachsene 5 Mark, Jugendliche 3 Mark, Schüler 2 Mark. Schlittschuhe ausleihen kostet 4 Mark.
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